«Die häusliche Gewalt hat 2022 zugenommen», sagte Sicherheitsdirektor Mario Fehr (SP) bei der Medienkonferenz zur präsentierten Kriminalstatistik im März. Der Kanton richte deshalb 2023 ein Augenmerk auf häusliche Gewalt. Das ist bitternötig, wie der Blick in die Zürcher Schutzeinrichtungen zeigt.
Wer es zu Hause nicht mehr aushält, kann in einem von sechs Frauen-, Mädchen- und Jugendlichen-Häusern temporären Unterschlupf finden – wenn es denn Platz hat. Denn die Häuser sind voll, wie ZüriToday nach Anfrage bei den Schutzeinrichtungen erfährt.
Frauenhäuser waren 2022 schweizweit überfüllt
«Wir verzeichneten in den letzten zwei Jahren eine deutliche Zunahme an Jugendlichen, die aufgrund von häuslicher Gewalt einen Platz bei uns angefragt haben», sagt Lucas Maissen, Institutionsleiter des Schlupfhuus Zürich.
Das Schlupfhuus bietet Jugendlichen Hilfe, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushalten. Wer nicht nach Hause gehen kann oder will, darf im Schlupfhuus bleiben, maximal drei Monate.
Susan A. Peter, Geschäftsführerin der Stiftung Frauenhaus Zürich, erklärt: «In der gesamten Schweiz waren die Frauenhäuser 2022 oft überfüllt» – auch das Frauenhaus Zürich Violetta, das zur Stiftung gehört.
Peter kritisiert die landesweite Situation: «Die Schweiz bietet gemäss EU-Richtlinien immer noch viel zu wenige und adäquat finanzierte Plätze an. Aktuell sind es knapp 500, es sollten jedoch 850 sein – gemäss der EinwohnerInnenzahl von 8,5 Millionen.»
Frauen müssen in anderen Kantonen untergebracht werden
Das Frauenhaus Violetta, das Frauenhaus Winterthur wie auch das Schlupfhuus haben kaum mehr freie Plätze. «Wir sind seit Monaten voll belegt», erklärt Sarah Wasescha, stellvertretende Geschäftsleiterin des Frauenhauses Winterthur. «In den letzten Monaten kam es auch immer wieder vor, dass alle drei Frauenhäuser im Kanton Zürich voll belegt waren und wir Zürcher Frauen ausserkantonal platzieren mussten.»
Susan A. Peter von der Stiftung Frauenhaus Zürich betont die komplexe Situation, in der sich Frauen und Mädchen befänden. «Den Frauen und Kindern, die ins Frauenhaus kommen, geht es oft sehr schlecht», präzisiert sie.
Die Auslastung im Schlupfhuus sei in den letzten Jahren sehr konstant gewesen – jedoch im hohen Bereich – bei zwischen 90 und 94 Prozent, erklärt Maissen. Was das für die Jugendlichen konkret heisst, verdeutlicht er in Zahlen: «In den letzten zwei Jahren mussten wir zwischen 110 und 170 Jugendlichen eine Absage erteilen, da wir keinen freien Platz anbieten konnten.»
Psychische Gewalt soll in den Fokus rücken
Nicht nur die hohe Belegung stellen die Schutzeinrichtungen vor Herausforderungen. Sarah Wasescha vom Frauenhaus Winterthur und Lucas Maissen vom Schlupfhuus heben die psychische Gewalt hervor. «Als Brennpunkte in unserer Arbeit erachten wir diejenigen Fälle häuslicher Gewalt, in denen bisher ‹nur› psychische Gewalt vorliegt», sagt Wasescha. «Das Abwägen, ob ein Eintritt in ein Frauenhaus indiziert ist, damit schwerere Gewalt verhindert werden kann, ist in solchen Fällen nicht eindeutig.»
Für Maissen ist auch die Kombination von verschiedenen Gewaltformen innerhalb einer Familie ein Problem: also physische und sexuelle Gewalt sowie psychische Gewalt. Er präzisiert: «Die Forschung zeigt klar, dass psychische Gewalt keinesfalls weniger weitreichende Folgen hat wie die physische.»
Es braucht eine schweizweite Strategie gegen häusliche Gewalt
Susan A. Peter verlangt eine schweizweite, langfristige Planung mit entsprechenden Zielen und Ressourcen, um entschiedener gegen häusliche Gewalt in der ganzen Schweiz vorzugehen. «Die Stiftung Frauenhaus Zürich – genauso wie die Dachorganisation der Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein – fordert eine gesamtschweizerische Strategie gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt. So wie es das zu anderen Themen schon lange gibt», sagt sie.
Dazu gehörten regelmässige und öffentliche Sensibilisierungskampagnen für potenziell oder von akuter Gewalt betroffene Personen. Zudem müsse in der Schule ab der Mittelstufe Bildungsarbeit geleistet werden, «denn in jeder Klasse sitzen Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind», so Peter.
«Es wird viel zu oft weggeschaut»
Die Geschäftsleiterin der Stiftung findet es stossend, dass nirgends beigebracht wird, wie man über häusliche Gewalt spricht – trotz der hohen Zahlen. «Warum ist das so?», fragt sie. «Nach wie vor wird viel zu oft weggeschaut – und das ist nicht gut – weder für die Betroffenen noch für die ganze Gesellschaft.»
Es sei sehr alarmierend, dass die Kantonspolizei zwanzigmal pro Tag gerufen wird, sagt Peter und fordert: «Wir dürfen uns nicht an die Gewalt gewöhnen!»
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