Am frühen Sonntagmorgen wurde in Dietikon eine 46-jährige Frau tot auf einer Brücke aufgefunden. Laut Ermittlungen der Polizei wurde sie von ihrem 56-jährigen Partner ermordet. Ein Einzelfall? Nicht, wenn man die Medienberichte der letzten Wochen anschaut, und auch nicht, wenn man die am Montag publizierte Kriminalstatistik des Kantons Zürich betrachtet.
Insgesamt 3455 Fälle von häuslicher Gewalt
2022 gab es sechs Prozent mehr Fälle von häuslicher Gewalt als im Vorjahr, schreibt die Kantonspolizei Zürich in ihrem Jahresbericht zur Kriminalstatistik. Zwanzigmal pro Tag mussten Beamtinnen und Beamten wegen häuslicher Gewalt ausrücken. Insgesamt kam es zu 3455 Straftaten, «bei denen sich Täter und Opfer in einer aktuellen oder ehemaligen Paarbeziehung befanden oder enge Verwandte waren». Laut Polizei setzt sich damit ein Trend aus den letzten Jahren fort: Fälle von häuslicher Gewalt nehmen zu.
Frauen am häufigsten Opfer von häuslicher Gewalt
Der grösste Teil der Gewalt richtete sich gegen Frauen und Mädchen. «Der Anteil weiblicher Opfer aller Delikte häuslicher Gewalt beträgt 72 Prozent», schreibt Mediensprecher Alexander Renner der Kantonspolizei auf Anfrage von ZüriToday. Die Kantonspolizei Zürich ergänzt im Bericht: «Ein grosser Teil der Gewalt gegen Frauen ereignet sich im häuslichen Bereich». Der Vorjahresvergleich zeigt insgesamt: Im Jahr 2022 gab es doppelt so viele versuchte Tötungsdelikte (15 Fälle, 2021: 7 Fälle). Auch wurden mehr Fälle von sexueller Nötigung verzeichnet (41 Fälle im Jahr 2022, 20 im Vorjahr).
Gewalt findet vorwiegend in Partnerschaften statt
In knapp der Hälfte der Fälle im Kanton Zürich war der Täter, die Täterin in einer Beziehung mit dem Opfer. In 30 Prozent der Fälle handelte es sich um ehemalige Partner/Partnerinnen. Knapp ein Fünftel der Delikte fand zwischen Eltern und Kindern statt. Die Polizei sprach 2022 so viele Schutzmassnahmen wie nie zuvor aus. Dazu gehören Wohnungsverweise und Kontaktverbote.
Am Wochenende tötete ein Mann seine Partnerin in Würenlos (AG):
Quelle: Tele M1
Wie ist die Zunahme zu erklären?
«Die häusliche Gewalt hat insgesamt zugenommen», bestätigt Sicherheitsdirektor Mario Fehr (SP) in der Medienkonferenz. Er verwies jedoch auch auf die Arbeit der Polizei: «Weil wir so viel machen, kommt auch mehr ans Licht.»
«Wir rätseln, ob häusliche Gewalt 2022 effektiv zugenommen hat oder ob sich mehr Opfer bei Beratungsstellen oder bei der Polizei melden», sagt Pia Allemann, Co-Geschäftsleiterin der BIF-Beratungsstelle für Frauen, im Gespräch mit ZüriToday. Die BIF-Frauenberatung ist eine von acht Beratungsstellen für Opferhilfe im Kanton Zürich. Sie berät Opfer, die Gewalt in Ehe und Partnerschaft erfahren. «Alle Beratungsstellen hatten über Jahre eine kontinuierliche Zunahme an Fällen. Doch 2022 blieben die Zahlen ähnlich hoch wie im Vorjahr», erklärt Allemann.
Wieso es zu einem Anstieg in der Kriminalstatistik des Kantons Zürich 2022 gekommen sei, kann sie nur vermuten. «Es braucht Studien, die diese Zahlen genauer untersuchen», erklärt sie.
Beratungsstellen sind der Öffentlichkeit bekannt
Weshalb die Zahlen bei häuslicher Gewalt und Sexualdelikten zugenommen haben, sei womöglich auf die vermehrte Präsenz der Beratungsstellen in den Medien zurückzuführen, mutmasst Allemann. Opfer getrauten sich vermehrt, Anzeige zu erstatten. Auch die Debatte um das neue Sexualstrafrecht könne Frauen ermutigt haben, die Täterschaft anzuzeigen.
Was muss sich in Zukunft verbessern?
«Die Opfer sollten noch besser unterstützt werden», sagt Allemann. Die Expertin wünscht sich besonders mehr Unterstützung in sozialen Fragen, sprich bei der Wohnungs- und Jobsuche sowie bei den Finanzen. Viele Opfer würden sagen: «Wenn ich eine Wohnung und das Geld gehabt hätte, wäre ich schon früher gegangen.»
Was unternimmt die Polizei gegen häusliche Gewalt?
Die Kantonspolizei setzt 2023 bei der häuslichen Gewalt einen Schwerpunkt – wie bereits 2021 und 2022. Sie verstärkt die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt (IST), mit der bereits lancierten Präventionskampagne «Stopp Gewalt gegen Frauen» soll zudem die Öffentlichkeit sensibilisiert werden. Ausserdem soll die Istanbul-Konvention umgesetzt werden. Dies ist ein Übereinkommen des Europarats, welches die Gewalt gegen Frauen sowie häusliche Gewalt verhindern und bekämpfen will. Zudem sollen Frauenhäuser sowie Beratungsstellen mit finanziellen Beiträgen unterstützt werden.
90 Prozent sind Wiederholungsdelikte
Allemann lobt die Arbeit der Polizei: «Die Medienkampagnen ermuntern Menschen, zum Beispiel Nachbarn oder Kollegen, sich bei den Beratungsstellen zu melden.» Es sei jedoch wichtig, dass sich Mitarbeitende von Beratungsstellen, Polizei und Strafverfolgungsbehörden regelmässig weiterbildeten, damit sie nicht abstumpften und neue Erkenntnisse einfliessen können. Denn: «90 Prozent der Fälle von häuslicher Gewalt sind Wiederholungsdelikte.»
Zusammenfassend sagt Allemann: «Wir müssen den eingeschlagenen Weg weitergehen.»
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