«Deine queere Wohngemeinschaft, in der du sein kannst, wer und wie du bist». So promotet der Verein Haven99 sein Projekt. Eine WG soll jungen queeren Menschen in der Region Zürich einen sicheren Hafen bieten – es wird das erste Schutzhaus für queere Menschen in der Deutschschweiz* sein.
Hinter dem Projekt steht ein Verein aus Freiwilligen. Sie wollen für queere Menschen zwischen 18 und 25 Jahren ein diskriminierungsfreies Zuhause schaffen. «Das Haven99 ist ein Schutzhaus für junge queere Erwachsene, die zu Hause Schwierigkeiten haben und Diskriminierung erfahren aufgrund ihres Queerseins», erklärt Sonja Weber, Mitinitiantin von Haven99, im Gespräch mit ZüriToday.
Queere Menschen haben häufiger psychische Probleme als cis-heterosexuelle
Viele junge Menschen haben zu Hause Probleme, weil sie wegen ihrer sexuellen/romantischen Orientierung oder wegen ihrer Geschlechtsidentität nicht akzeptiert werden oder psychische oder körperliche Gewalt erfahren.
Queere Menschen leiden öfters unter psychischen Problemen als cis-heterosexuelle Menschen, wie das Swiss LGBTIQ-Panel 2022 ergeben hat. Eine von fünf Personen einer sexuellen Minderheit verfügt demnach über eine schlechte Gesundheit. Bei cis-heterosexuellen Personen ist es nur eine von zehn Personen. Am häufigsten nennen Personen einer geschlechtlichen Minderheit, eine schlechte Gesundheit zu haben. Hier ist es jede dritte Person.
Genau da will das Haven99 anknüpfen. Das Schutzhaus soll für die queeren Menschen ein temporärer Unterschlupf sein, bis sich die Lage zu Hause beruhigt hat, die psychische Verfassung stabiler ist oder sie selbständig wohnen können.
«Das kann unterschiedlich lang dauern, zwischen zwei Monaten und zwei Jahren», erklärt Sonja Weber. Das Haven99 sei «ein Ort der Genesung».
Bis zu sechs Personen können in der WG wohnen. Jede Person hat ihr eigenes Zimmer und lebt selbständig. Badezimmer, Küche, Wohnzimmer und Hobbyräume werden geteilt. Sonja betont: «Es ist kein betreutes Wohnen.» Anders als in anderen Schutzhäusern, etwa den Frauenhäusern, sind keine Psychotherapeuten oder Sozialpädagoginnen anwesend.
Dennoch sind die jungen Erwachsenen nicht auf sich alleine gestellt. Sämii, der Gründer und Vereinsleiter von Haven99, wird auch in der WG wohnen. Er wird Hauptmieter sein und sich um das Aufnahmeverfahren kümmern.
«Sämii ist psychisch stabil, er kann als Person den sicheren Hafen bieten, neben dem örtlichen Hafen, und die jungen Menschen im Haushalt unterstützen», erklärt Sonja. Sie selbst ist in Ausbildung zur Sozialarbeiterin und wird Sämii beraten.
Es soll aber mehr sein als eine befristete WG: «Uns ist es wichtig, dass wir mit queeren Organisationen im Kontakt bleiben, damit wir auch an professionelle Hilfe anknüpfen können», hält Sonja fest.
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Wie ist die Idee zum Haven99 entstanden?
«In der Schweiz gibt es bis jetzt kein Schutzhaus für queere Menschen», erklärt Sonja. Das wollte Gründer Sämii ändern. Es sei ein wichtiges Empowerment für queere Menschen, «wenn sie ein Zuhause haben, in dem sie sich entfalten können, lieben, wen sie möchten, und sein können, wer sie sind», betont Sonja.
Das Haven99 soll ein Ort sein, in dem man sich nicht rechtfertigen oder verstecken muss. Das müssten queere Menschen in ihrem Alltag sowieso schon genug. «Man kann die Person nachhause bringen, auf die man grad Lust hat. Man darf mit den Pronomen angesprochen werden, die man verwenden möchte», sagt Sonja.
Diskriminierung bei der Haussuche
Bis die ersten Bewohnenden einziehen können, dauert es aber noch eine Weile. Denn das Wichtigste fehlt dem Haven99 noch: ein Haus. Die Suche gestaltet sich als schwierig. «Wir bekommen sehr viele Absagen», erzählt Sonja. Zwischen zehn und 20 Häuser und Wohnungen hat der Verein bereits angeschaut. Anfangs waren die fehlenden finanziellen Mittel Schuld.
Seit Anfang Oktober sammelt der Verein Geld via Crowdfunding. Mit dem Start des Crowdfunding kam auch die finanzielle Sicherheit. Derzeit stösst der Verein auf ein anderes Problem, wie Sonja erzählt. Es komme öfters vor, dass die Vermietenden im Vorhinein sagen, WGs seien willkommen. Nach der Besichtigung und dem Vorstellen von Haven99 heisst es dann aber, sie möchten hier keine WG. «Es ist schlimm, was wir erleben und ertragen müssen», sagt Sonja. Sie würden «durch die Blume» diskriminiert.
Sonja hat einen Wunsch: "dass die Vermieterinnen und Vermieter nicht sagen: Ihr seid queer, wir wollen euch nicht. Sondern: Kommt und zieht bei uns ein.»
Trotz dieser Diskriminierungserfahrung bleibt der Verein positiv. «Wir sind zuversichtlich, dass es klappt», sagt Sonja. Das Crowdfunding dauert noch bis am 18. November und schon jetzt wurde mehr als der Zielbetrag von 30'000 Franken gesammelt.
Wer kann im Haven99 wohnen?
Im Haven99 sollen vorerst nur volljährige junge Menschen wohnen. Die WG ist aber offen für unter 18-Jährige. Hier besteht jedoch das Problem, dass eine Vormundschaft den Mietvertrag unterschreiben muss und die rechtlichen Hürden sehr hoch sind. Deshalb will der Verein in der ersten Phase nur Volljährige ansprechen. Ausserdem sollen die Personen aus dem Raum Zürich kommen oder die Möglichkeit zum Pendeln haben, damit sie ihren Alltag weiterleben können.
Um Teil der WG sein zu können, gibt es ein Bewerbungsverfahren. Im Zuge dessen wird die Lage zu Hause abgeklärt sowie die finanzielle Situation. Denn das gesammelte Geld aus dem Crowdfunding wird erstmal ans Inventar und an die Kaution gehen. In Zukunft soll es auch möglich sein, einen Teil der Miete für Mitbewohnende reduzieren zu können. Doch derzeit ist das nicht möglich, weil der Verein noch kein Haus hat und nicht weiss, wie hoch die Miete ausfallen wird. «Es ist unser langfristiges Ziel, regelmässige Spenden einzunehmen, damit auch Menschen, die die finanziellen Mittel nicht haben, hier wohnen können», sagt Sonja. Am Geld soll ein gewünschter Einzug ins Haven99 nicht scheitern dürfen.
Warum braucht es ein queeres Schutzhaus?
«Man kann vielleicht denken, dass es in der Schweiz kein queeres Schutzhaus braucht. Das ist aber leider nicht so», sagt Sonja Weber.
Dass der Bedarf nach einem Schutzhaus da ist, bestätigt auch Alecs Recher vom Transgender Network Switzerland. Denn trans Menschen und LGBTIQ-Personen erlebten häusliche Gewalt in unterschiedlichen Formen und es komme auch vor, dass junge Menschen nach einem Coming-out bei ihren Eltern nicht mehr sicher oder nicht mehr erwünscht seien, sagt Recher. Gerade während der Corona-Pandemie hätten sich diese Probleme deutlich gezeigt. In diesen Situationen seien die jungen Menschen auf eine Schutzunterkunft angewiesen – und zwar auf eine, in der sie als trans Personen sicher seien und gut unterstützt. «Ein Frauenhaus ist für viele nicht der richtige Ort, und auch dort gibt es zu wenig Plätze.»
Schutz vor häuslicher Gewalt ist die Aufgabe des Staats, dazu hat sich die Schweiz mit der Zustimmung zur Istanbul-Konvention verpflichtet. Das betont auch Alecs Recher: «Die Schweiz muss queere Personen vor häuslicher Gewalt schützen.» Sie sei in der Pflicht, die Schutzunterkünfte zu finanzieren. Nun muss mit dem Haven99 ein privates Projekt in die Bresche springen. «Es ist zu hoffen, dass dies wenigstens dazu führt, dass der Staat seine Verantwortung irgendwann wahrnimmt», so Recher.
Nachfrage nach queerem Schutzhaus ist da
Interesse an den WG-Zimmern besteht bereits. Bereits jetzt hat der Verein laut Sonja «eine gute Handvoll» Anfragen. Die Zimmer könnten schon jetzt besetzt werden, obwohl der Verein noch keinen aktiven Aufruf gestartet hat. «Das Haven99 muss jetzt nur noch existieren, damit uns die Türen eingerannt werden», so Sonja.
Wann kann die Schweiz mit ihrem ersten queeren Schutzhaus rechnen? «Wir peilen diesen Dezember an», erklärt Sonja. Und das Haven99 soll nicht das einzige queere Schutzhaus bleiben: «Es wäre cool, wenn wir in gegebener Zeit expandieren könnten. Damit sich nicht alle um die fünf, sechs Schlafplätze in der Schweiz streiten müssen.»
Noch besser als eine Expansion in der ganzen Schweiz fände Sonja aber etwas anderes: «Es wäre schön, wenn es uns irgendwann gar nicht mehr bräuchte.»
*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels schrieben wir, dass das Haven99 das erste queere Schutzhaus der Schweiz sei. Das ist nicht korrekt. Im Kanton Genf gibt es mit dem Réfuge Genève bereits seit ein paar Jahren ein queeres Schutzhaus.