Experte erklärt

«Raser schätzen sich falsch ein und glauben, es im Griff zu haben»

· Online seit 01.06.2022, 06:49 Uhr
Seit Corona nehmen Raserdelikte im Kanton Zürich zu. «Nichts wird passieren, erwischt wird man selten und im Griff hat man es sowieso» – Verkehrspsychologe Urs Kaegi erklärt, wie Raser ticken und was Corona mit der Zunahme an Delikten zu tun hat.

Quelle: TeleZüri

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Thalwil, Sonntagabend, kurz vor 21.30 Uhr. Ein 20-Jähriger fährt mit über 249 Kilometern pro Stunde auf der Autobahn. Eine Patrouille der Kantonspolizei Zürich verfolgt das schnellfahrende Auto, hält den Fahrer an und verhaftet ihn. Das ist kein Einzelfall. Erst kürzlich hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürichs bekannt gegeben, dass Raserdelikte deutlich zugenommen haben – um satte 42 Prozent in Zürich.

«Ich habe es im Griff»

Insbesondere seit dem ersten Corona-Lockdown ist die Anzahl an Raserdelikten im Kanton Zürich gestiegen. Rasen als Hobby? Verkehrspsychologe Urs Kaegi glaubt, dass es sich bei Raserfällen selten um einmalige Geschichten handelt. «Ich gehe davon aus, dass es solche sind, die immer wieder schnell fahren. Es muss nicht immer im Ausmass des Rasens sein, wahrscheinlich gehen die Fahrenden mehrmals ans Limit und sind manchmal extrem.»

Laut dem Verkehrsexperten glauben Raser oft: «Mir passiert es sowieso nicht, dass ich erwischt werde». Sie hätten eine falsche Selbsteinschätzung und gehen tendenziell davon aus, dass sie das Fahren im Griff haben – dabei aber nicht die aktuelle Situation einschätzen.

«Sie beziehen sich auf das technische und nicht auf das angepasste Fahren. Wenn ich Klienten frage, wie fest sie es im Griff haben, dann sagen sie bei einer Skala zwischen eins und zehn meist acht oder neun. Dieses übertriebene Gefühl, gefährliche Situationen im Griff zu haben, ist eher ein unübliches Verhalten», so Kaegi.

Weniger Autos, mehr Raser?

Schneller zu fahren und zu glauben, dass nichts passieren wird – das habe wohl während der Pandemie zugenommen. Kaegi weiss, weshalb Corona zu einer Zunahme von Raserdelikten geführt haben könnte. «Es liegt wohl daran, dass Einige gedacht haben, jetzt hätten sie mehr Platz, mehr Zeit und es seien weniger Autos unterwegs.» Schnellfahrer hätten sich vermutlich freier gefühlt und geglaubt, sie könnten sich mehr leisten.

Hinzu kommt, dass die Wahrscheinlichkeit, als Raser gefasst zu werden, in der Tat sehr klein ist. Urs Kaegi erklärt: «Dass es unwahrscheinlich ist, erwischt zu werden, verstärkt das Gefühl, dass man es sich leisten kann. Es gibt auch verhältlnismässig wenig Raserunfälle – erneut wird dieses Gefühl bestätigt.»

Jene, die als Raser einen Unfall verursachen, sind gemäss der Erfahrung des Psychologen danach veränderte Menschen. «Sie realisieren, dass sie die Situation falsch eingeschätzt haben und wissen, das es nicht Pech oder Zufall war.» Doch die Lösung, Raserdelikte zu senken, könne nicht sein, dass Autofahrer solange zu schnell unterwegs sind bis ein Unfall passiert.

Gibt es eine Lösung?

«Es ist schwierig zu sagen, was man gegen das Problem tun kann», meint Kaegi. «Man müsste Personen frühzeitig aus dem Verkehr nehmen können und was definitiv auch hilft, sind Schulungen. Wenn man realisiert, wie lange das Bremsen bei einer gewissen Geschwindigkeit dauert, wirkt das schon.»

Der Verkehrspsychologe sagt, dass zusätzlich Kontrolle gelehrt und Fehlverhalten entsprechend sanktioniert werden müsse. Doch im Februar wurde die Aufhebung der Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr aufgehoben. Sendet dies ein falsches Signal? «Natürlich wird – je nachdem wie das Gericht entscheidet – das Ganze abgeschwächt», erklärt Urs Kaegi. «Es wird gezeigt, dass alles gar nicht so schlimm ist.»

Kaegi versteht aber auch, dass das Gericht mehr Spielraum bei der Ermessung der Strafe braucht: «Es gibt Personen, die noch nie aufgefallen sind und andere, die immer wieder mit der Justiz konfrontiert werden.» Es komme schliesslich auf die zukünftige Gerichtspraxis an, wie die Lockerung des Rasergesetzes interpretiert wird.

veröffentlicht: 1. Juni 2022 06:49
aktualisiert: 1. Juni 2022 06:49
Quelle: ZüriToday

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