Sternenkinder

Endlich erfahren, was mit dem verstorbenen Kind passiert ist

· Online seit 11.12.2022, 09:23 Uhr
Ein Kind zu verlieren, ist ein einschneidendes Erlebnis für Eltern und Angehörige. Heute wird Kindsverlust meist in der Ausbildung zur Hebamme und in Spitälern thematisiert. Früher aber wurde darüber geschwiegen und es herrschte eine unmenschliche Praxis. Ein Zürcher Kantonsrat verlangt Klarheit.
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Was für viele als einer der schönsten Tage ihres Lebens in Erinnerung bleibt, kann für andere ein tiefes Loch im Herzen graben. Die Geburt des eigenen Kinds. In der Schweiz sind im vergangenen Jahr knapp 90'000 Kinder zur Welt gekommen. In demselben Jahr wurden aber auch 395 Totgeburten gezählt. Als Totgeburt wird ein Kind bezeichnet, das ohne Lebenszeichen auf die Welt kommt, dies entweder ab der 22. Schwangerschaftswoche oder wenn das Kind ein Geburtsgewicht von mindestens 500 Gramm aufweist. Bis zur 21. Schwangerschaftswoche spricht man von einer Fehlgeburt.

Ein Tabuthema

In der Umgangssprache werden die Begriffe Sternenkinder oder Engelskinder sowohl für Fehl- als auch Totgeburten verwendet. Für Eltern ist das ein sehr tragisches Erlebnis. Schock, Trauer, Trauma – ein Ereignis, das die Eltern das Leben lang begleitet. Eine, die Betroffene durch die Trauer begleitet, ist Anna Margareta Neff. Sie arbeitet in einer selbständigen Praxis als Hebamme und ist Leiterin der Fachstelle Kindsverlust Schweiz. Ob Mutter, Vater, Grosseltern oder Bekannte, Neff führt verschiedenste Beratungen per Telefon oder E-Mail.

Eltern durch die Trauer begleiten, eine Beziehung zum verstorbenen Kind aufbauen und über dieses sprechen. Nicht in Isolation geraten und nicht alleine den Schmerz aushalten. Das sind einige der vielen wichtigen Empfehlungen von Neff. Das sind gleichzeitig Tipps, die vor mehreren Jahrzehnten überhaupt nicht thematisiert wurden. Und auch heute wird manchmal darüber geschwiegen. «Es ist leider immer noch ein Tabuthema, wenn ein Kind früh stirbt», sagt Neff.

Das Kind ist weg nach der Geburt

Heute teilweise ein Tabu, früher ein absolutes Tabu. Vor 30 Jahren habe man laut Neff den Eltern nach der Geburt ihr Kind weggenommen, wenn man gesehen hat, dass es nicht mehr lebt. «Man hat gemeint, wegnehmen sei am besten. Man hat auch verschwiegen, ob es ein Mädchen oder ein Bube ist», so Neff. Die Ansicht damals: Es geht den Eltern besser, wenn sie das Kind nicht sehen und möglichst wenig darüber wissen. Die Eltern haben vermeintlich gemeint, dass sie ohne Kind weiterleben müssen.

Anfrage an den Kantonsrat

Auch Michael Zeugin, Zürcher GLP-Kantonsrat, weiss von der Praxis gegenüber Engelskindern vor einigen Jahren. «Man ist sehr befremdlich mit Totgeburten oder dem Tod gleich bei der Geburt umgegangen. Es wurde verschwiegen und auch verdrängt. Man hat die Kinder den Müttern sofort weggenommen. Dadurch fand keine Verabschiedung durch die Eltern statt.»

Die Kinder habe man weggeschafft. Man habe die Eltern im Ungewissen gelassen, wo die Kinder sind, so Zeugin. «Für die Angehörigen gibt es keinen Ort, kein Grab, wo die Trauer stattfinden kann. Das Kind scheint wie im Nebel verschwunden. Das ist nach wie vor für viele Personen, die das erlebt haben, eine grosse Belastung.»

Der GLP-Politiker Zeugin fordert eine historische Aufarbeitung vom Umgang mit Engelskindern im Kanton Zürich. «Es geht darum, dass man den unzähligen Personen, die immer noch eine unabgeschlossene Geschichte haben, helfen kann. Helfen, damit sich der Nebel für sie lichtet und sie besser mit der Trauer umgehen können.»

«Nur so kann damit abgeschlossen werden»

Michael Zeugin will wissen, welche Haltung der Regierungsrat und der Kanton gegenüber der früheren, heute unmenschlich wirkenden Praxis hat. Er fragt, welche Massnahmen der Regierungsrat für die Aufarbeitung bereit ist zu ergreifen. «Ich will den Regierungsrat beauftragen, dass die Spitäler und die Listenspitäler im Kanton Zürich ihre Geschichte zu den Engelskindern aufarbeitet. Die Kinder wurden schlicht entsorgt, weggeworfen.» Das sei nicht mehr nachvollziehbar.

«Es gibt auch Stimmen, die sagen, dass Kinder in die Forschung umgeleitet wurden», erklärt Zeugin weiter. «Das kann damals legitim gewesen sein, ist heute aber nicht mehr so. Und deshalb braucht es eine historisch saubere Aufarbeitung. Denn nur so kann damit abgeschlossen werden. Für die noch lebenden Betroffenen und auch für die Spitäler und Institutionen im Kanton Zürich.»

Was die Spitäler (nicht) sagen

ZüriToday versucht in Erfahrung zu bringen, wie Spitäler im Kanton Zürich früher mit Sternenkindern umgegangen sind und wie die Praxis heute aussieht. Kein einfaches Unterfangen. Das Unispital Zürich verschiebt mehrmals das Interview, eine Antwort ist bis heute ausstehend. Das Kantonsspital Winterthur stellt keine Fachperson zur Verfügung. Auch weitere Antworten bleiben aus. Lediglich das Stadtspital Triemli nimmt schriftlich Stellung.

Doch wie die Spitäler früher auf einen Kindsverlust reagiert haben, bleibt von Spitalseite – auch vom Triemlispital – unbeantwortet. Aber Berichte, auch jene von Anna Margareta Neff und Michael Zeugin, zeigen die unmenschliche Praxis: Wegnehmen, Verdrängen, Verschweigen. Traumatisch für die Eltern und Angehörigen.

Was Kantonsrat Zeugin am meisten berührt, sind Personen im höheren Alter. «Sie leben seit 30, 40 Jahren mit einer Ungewissheit: was ist wirklich passiert? Wo ist mein Kind? Bis hin zu einer Unsicherheit, ob das alles wirklich passiert ist. Diese Unsicherheit über das erlebte und die Erschwernis darüber zu sprechen ist ein Leid das bis heute andauert. Klarheit und Anerkennung des Unrechts durch den Kanton könnte dieses Leid beenden.»

Deshalb will er nun Antworten. Antworten, welche die Zürcher Politik liefern soll. Die Anfrage hat Michael Zeugin Ende Oktober beim Zürcher Kantonsrat eingereicht.

«Einsehen, dass man es früher falsch gemacht hat»

Carla ist ein Sternenmami, das vor vier Jahren kurz nach der Geburt Zora verloren hat. Eine solche Aufarbeitung wie sie Zeugin fordert, findet Carla sehr wichtig. «Ich denke, das kann sehr heilsam für Eltern sein, die nicht den Raum erhalten haben, wie das eigentlich jedem Menschen zustehen sollte.» Es sei eine schöne menschliche Handlung, wenn die historische Aufarbeitung passieren würde. «Aus Fehlern lernt man. Wir könnten so zu den Fehlern stehen und einsehen, dass man das früher falsch gemacht hat», sagt Carla.

Auch Anna Margareta Neff hält eine historische Aufarbeitung der Engelskinder im Kanton Zürich für sehr wertvoll. «Wir nennen das Kohärenzgefühl», erklärt Neff. «Etwas wieder ins eigene Leben integrieren zu können ist wichtig, sodass man etwas versteht und dadurch wieder in die Handelbarkeit kommt und etwas machen kann.» Wisse man nie, was mit dem Kind passiert ist, mache dies viel schwieriger. «Es wird sehr diffus, etwas wieder ins Leben zu integrieren.»

veröffentlicht: 11. Dezember 2022 09:23
aktualisiert: 11. Dezember 2022 09:23
Quelle: ZüriToday

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