Sternenkinder

Das Leben als Sternenmami – Carla erzählt ihre Geschichte

12.12.2022, 10:04 Uhr
· Online seit 12.12.2022, 09:19 Uhr
Freud und Trauer liegen manchmal sehr nahe beieinander. Die Geburt eines Kindes kann eine der schönsten Tage im Leben sein – wenn alles gut läuft. Kommt es zu einer Totgeburt oder einem Kindsverlust kurz nach der Geburt, beginnt eine harte Zeit. Eine Betroffene erzählt.
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Carla hat am 7. Dezember 2018 ihr drittes Kind zur Welt gebracht. Zora. Die Schwangerschaft und die Geburt verliefen normal, doch dann hat Zora kurz nach der Abnabelung Probleme bekommen. Im Spital hat man versucht, Zora zwei Stunden lang wiederzubeleben. Dann ist sie in den Armen der Eltern gestorben. Carla erzählt von Zora und von ihrem Leben als Sternenmami. Vom Aufenthalt im Spital, über die Betreuung bis zur Situation heute.

Carla, wie hast du im Spital reagiert?

Es kam alles sehr unerwartet – auch für das Behandlungsteam. Sie haben Zora genommen und sind in ein Notfallzimmer gegangen. Sie sah nicht gut aus und war blau. Ich habe realisiert, dass wir hier ein grosses Problem haben. Mein Mann war noch hoffnungsvoll, denn wir haben sie noch ein- bis zweimal weinen oder aufschreien gehört.

Wie wurdest du über die Situation informiert?

Ich war nach der Geburt sehr erschöpft und habe jede Person, die ins Zimmer kam, gefragt, was los sei. Das war für mich ein schwieriger Moment. Niemand hat mir gesagt, was los ist. Personen sind ins Zimmer gekommen, bei denen man gemerkt hat, dass sie unter Schock stehen. Ein Assistenzarzt zum Beispiel, der nichts mit mir zu tun hatte, kam auch in den Raum. Daraufhin kam dann endlich der Klinikleiter und klärte uns über die prekäre Situation auf.

Die Hebamme war bei der Reanimation immer dabei und kam zwischendurch zu uns. Sie hat zu mir gesagt, Zora atme nicht von alleine. Sie könne ihren Puls nicht halten und das Spitalpersonal gebe alles, damit sie überleben kann. Die Ärzte haben offen gesagt, was sie wissen und nicht wissen. Sie haben das Gefühl gehabt, Zora habe zu wenig Blut, weil der Blutwert zu tief lag. Aber sie wussten nicht, ob es ein Maschinenfehler war. Sie mussten entscheiden, ob sie ihr Blut geben – dem Test trauen – und untersuchen, wo sie blutet. Sie haben dann auch mich untersucht: Ob man Fremdblut bei mir findet.

Wie war das für dich und deinen Mann?

Wir waren sehr schnell in dieser Diagnostik. Für uns war es gut, dass sie offen und transparent waren. Als nach dem Klinikdirektor der Leitende Arzt der Neonatologie zu uns kam, sagte er, sie probieren noch ein Medikament. Wenn das nicht geht, dann hätten sie nichts mehr in der Hand, um ihr zu helfen. Dann war für uns klar, dass wir sie zu uns nehmen wollen. Wir wollten sie noch begrüssen auf dieser Welt.

Als Zora nicht auf das Medikament reagiert hat, wurde sie direkt zu uns gebracht. Ich habe sie in die Arme genommen und mein Mann war bei mir. Die Hebamme hat gesagt, sie mache noch Fotos – lieber, man hat Fotos, als wenn man keine hat. Man könne das später löschen, wenn man will. Sie wusste, dass das später zu den ganz wichtigen Dingen gehört. Von der Hebammenseite und vom ganzen Behandlungsteam wurde sofort eine Professionalität an den Tag gelegt. Man hat gemerkt, dass sie sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Und gleichzeitig spürten wir ein ehrliches Mitgefühl.

Hast du dich gut betreut gefühlt?

Im Gebärsaal verlief alles sehr professionell. Als ich aufs Wochenbett kam, war es für mich sehr schwierig. Dort ist man, wenn man ein Kind bei sich hat. Ich habe zwar ein Einzelzimmer erhalten, habe mich aber am falschen Ort gefühlt. Aus den anderen Zimmern habe ich Babys weinen gehört. Trotzdem wollte ich im Spital bleiben mit Zora. Es wurde uns auch angeboten, mit ihr nach Hause zu gehen.

Im Spital wurde ich generell gut betreut. Sie haben versucht, den Moment, den man mit dem Kind hat, aufzugreifen, um Erinnerungen zu schaffen. Sie haben Abdrücke von den Füssen gemacht und um die Fotos, die im Gebärsaal gemacht wurden, bin ich sehr froh. Sie haben uns diverse Flyer mitgegeben. Insbesondere der Flyer einer Hebamme, die Rückbildungsturnen für Frauen mit Kindsverlust anbietet, war für mich wichtig. Ich glaube, das Wichtigste war, dass wir so viel Zeit hatten, wie wir brauchten mit Zora. Wir waren da völlig frei.

Wie war es, als du nach Hause gegangen bist?

Als ich nach Hause ging, habe ich mich sehr alleine gefühlt. Ich habe mich gefragt: «Und jetzt?» Das Hebammenteam, das ich vor der Geburt organisiert hatte, hat sich schon im Spital gemeldet. Sie hätten gehört, was passiert sei und würden trotzdem zu mir nach Hause kommen. Die Hebamme, die zu mir nach Hause kam, hat das sehr gut gemacht. Sie hat mir gratuliert, hat anerkannt, dass ich eine Geburt hinter mir habe und auch, dass ich es sofort wieder verabschieden musste.

Was genau hat die Hebamme so gut gemacht?

Sie war quasi die Brückenbauerin, so dass ich vernetzt wurde. So zum Beispiel mit der Anbieterin für den Rückbildungskurs oder mit meiner Gynäkologin. Ich wollte nirgends selber anrufen oder Mails schreiben. Da war ich sehr froh, dass sie das gemacht hat.

Hätte irgendetwas anders laufen sollen?

Ich finde, die Schnittstelle vom Spital nach Hause hat überhaupt nicht funktioniert. Das, was ich brauchte, um den Abschied zu gestalten, mussten mein Mann und ich selber einfordern. Das war für mich eine Motivation, um aktiv zu werden. Man steht einfach da und hat das Kind nicht bei sich – das ist so einschneidend. Die Schnittstelle versuchen sie mit Flyern zu decken. Das reicht aber nicht. Nur schon mit einer Anmeldung bei der spezialisierten Hebamme, mit einer Terminvereinbarung, könnte man sehr viel helfen. Nachbesprechungen für zuhause werden zwar angeboten. Aber Informationen darüber, was in der Zwischenzeit passiert, wären wichtig.

Inwiefern bist du aktiv geworden?

Unsere Webseite ist daraus entstanden. Ich ging nach Hause, habe gegoogelt und die Organisation Kindsverlust gefunden. Da muss man sich aber auch selbst melden. Ich habe damals gemerkt, dass es da noch nicht so viel Unterstützung gibt. Sei dies real oder in der Web-Welt.

Ich habe die Leiterin des Rückbildungskurses gefragt, ob sie eine Person kennt, die sich in einer ähnlichen Situation befindet. So habe ich eine Frau kennengelernt, die zwei Kinder im gleichen Alter hatte wie ich und deren drittes Kind auch gestorben ist. Nicht nur wir, auch unsere Kinder konnten sich miteinander austauschen. Mit dieser Freundin erstellte ich die Webseite.

Wie war es denn mit deinen anderen beiden Kindern?

Meine Eltern haben meine zwei anderen Kinder während der Geburt gehütet. Die zwei waren zweieinhalb und viereinhalb Jahre alt. Sie wussten, dass sie ein Geschwisterchen bekommen. Im Spital war das sehr schwierig. Wir waren völlig auf uns gestellt. Wir mussten selber wissen, was wir mit diesen zwei Kindern machen, was diese brauchen. Doch für uns war klar, dass sie einbezogen werden mussten. 

Ich finde, da kann man die Betroffenen nicht einfach allein lassen. Sie brauchen Beratung. Auf dem Wochenbett besteht noch viel Handlungsbedarf. Hier sieht man auch folgenden Unterschied: Auf dem Wochenbett arbeiten vor allem Pflegefachleute und im Gebärsaal Hebammen. Die Hebammen beschäftigen sich aufgrund ihrer Ausbildung mit der Thematik des Kindsverlustes.

Wie kannst du mit deinem Umfeld über Zora sprechen?

Mir hat es geholfen, dass ich ein sehr offener Mensch bin. Ich wollte und will immer noch, dass man über Zora spricht. Sie hat einen Platz in unserer Familie. Es gab Leute, die nicht angerufen haben, sich nicht gemeldet haben. Diese waren so überfordert mit der Situation, dass sie nicht reagieren konnten. Aber die meisten aus meiner Familie, aus dem engeren Umfeld und auch die Nachbarschaft haben gut reagiert. Sie haben Zora als Person wahrgenommen. Ein Mensch, den sie alle nicht kennengelernt haben.

Ich hatte im Spital neben der Familie noch gewisse Freundinnen eingeladen und ihnen gesagt, sie dürfen kommen, um Zora zu besuchen. Das geschah mit Absicht. Ich wollte nicht, dass Zora für andere ein Phantom ist. Ich spüre bis heute, wer sie gesehen hat und wer nicht. Wer sie gesehen hat, zählt sie zur Familie und kann über sie sprechen.

Welchen Platz hat Zora heute in der Familie?

Sie ist präsent in unserer Familie. Wir haben zuhause einen Ort mit kleinen Dingen und einem Foto von ihr. Draussen vor der Küche haben wir eine Kerze in einer Laterne, bei der eine Holzfigur reinschaut. Das nennen wir das Zora-Kerzlein. Die mittlere Tochter und ich hängen sehr stark daran. Wir zünden die Kerze in der Winterzeit regelmässig an. Von den Nachbarn haben wir damals ein kleines Bäumlein erhalten mit Figuren und Herzchen dran, die sie damals gebastelt haben. Das Bäumlein blüht immer im Winter. Die ganze Familie nennt es das Zora-Bäumli.

Wie geht es dir heute?

Eigentlich habe ich ein sehr positives Gefühl zu ihr. Sie hat mir so viel Neues gezeigt. Sie hat mich mit sehr vielen guten Menschen verbunden, die ich dank ihr kenne. Ich darf viele Dinge mit anderen Augen betrachten, weil sie kurz auf Besuch kam. Sie hat mir einen total neuen Blick aufs Leben gegeben. Für das bin ich ihr sehr dankbar. Das Grundgefühl ist Dankbarkeit und Liebe, die ich ihr gegenüber empfinde. Durch die Liebe bin ich sehr stark mit ihr verbunden. Diese Liebe pflege ich auch sehr stark. Ich gehe regelmässig ans Grab.

Die Trauer hat sich verformt. Am Anfang war es ein Schock und eine Leere. Und das hat sich dann in verschiedenen Gefühlen gezeigt, darunter auch Wut und Schuld. Ich bin gerne mal in der Trauer und denke an Zora. Vielmehr bin ich aber bei der Liebe und Einsicht angekommen. Und die Warum-Frage stelle ich mir nicht.

veröffentlicht: 12. Dezember 2022 09:19
aktualisiert: 12. Dezember 2022 10:04
Quelle: ZüriToday

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