Kriminalität in Zürich

Bei jugendlicher Gewaltbereitschaft herrscht ein Stadt-Land-Graben

· Online seit 11.04.2023, 10:38 Uhr
Brutalität bei Jugendlichen wird nicht zuletzt von Inhalten auf Social Media angetrieben. Lehrpersonen in der Stadt Zürich machen andere Beobachtungen als Kollegen vom Land. Ein Gewaltexperte sieht den Grund auch bei der Erreichbarkeit der Polizei.
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Nach der brutalen Gewalttat gegen eine Schülerin in Schwamendingen verwundert es einige Zürcherinnen und Zürcher nicht, dass so etwas genau in diesem Bezirk passiert. Ein ZüriToday-User schreibt beispielsweise, Schwamendingen «war vor 40 Jahren schon ein Ghetto und wird es immer bleiben». Ob «Schwamedinge Mässerklinge» oder «Gwaltstettä» – wie die umgangssprachlichen Bezeichnungen zweier Zürcher Kreise zeigen, gibt es mehr als einen Problembezirk in der Stadt. Doch wie steht es um die Jugendgewalt in ländlichen Gebieten?

Junge führen gewaltverherrlichende Gespräche

Laut Lehrer H.M.* hat seine Sekundarschule im Zürcher Oberland «absolut kein Problem» mit Gewalt unter den Schülerinnen und Schülern. Es gäbe höchstens mal «die eine oder andere Rangelei» auf dem Pausenplatz. Das sei aber weit entfernt von brutaler Gewalt. Auch ausserhalb der ländlichen Schule hat H.M. noch nie etwas von handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Schulkindern gehört oder gewaltverherrlichende Konversationen mitbekommen.

Als Lehrerin an einer Stadtzürcher Sekundarschule bekommt A.L.* oft mit, was ihre Schülerinnen und Schüler treiben. Vor einiger Zeit hätten drei Schüler einen Mitschüler auf dem Heimweg «spitalreif geschlagen», berichtet die Lehrerin. In der Pause gehe es oft auch ziemlich ruppig zu und her. «Meistens sind es Jungs, die sich in der Pause immer wieder schlagen», sagt A.L. «Letztes Jahr bekam ein Schüler voll die Faust ins Gesicht», erzählt die Lehrerin weiter. Sie überhörte auch schon brutale Aussagen wie «wenn ich eine Schwuchtel sehe, schlage ich ihm den Kopf so lange auf den Randstein, bis er platzt».

Kriminalstatistik zeigt Stadt-Land-Unterschied

Doch ist der Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Regionen wirklich so ausgeprägt? «Ja. Es gibt einen Stadt-Land-Unterschied in der Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen», bestätigt Dirk Baier, Experte für Jugend- und Gewaltkriminalität der ZHAW. «Die Gewalt bei Jugendlichen ist in der Stadt häufiger zu finden», so Baier. Zumindest zeigt das die Kriminalstatistik.

Schaue man sich zusätzlich die Auswertungen von Jugendbefragungen an, wird klar, dass die Unterschiede geringer werden. Denn «auf dem Land gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen, die nicht bei der Polizei angezeigt werden», so Baier, und dadurch nicht in die Kriminalstatistik miteinfliessen. «Die Hemmschwelle für eine Anzeige ist auf dem Land höher», erklärt der Professor. Während sich Opfer und Täter in ländlichen Regionen häufiger kennen, ist die Anonymität der Streitparteien in der Stadt eher gegeben, was mit einer höheren Anzeigebereitschaft einhergehe. Ausserdem ist «die Polizei auf dem Land nicht immer so gut erreichbar wie in der Stadt», sagt der Professor.

Gewalttaten werden gefilmt und verschickt

Wie auch im Fall Schwamendingen werden Gewaltdelikte teilweise mit Handys gefilmt und auf den sozialen Medien geteilt. Die Stadtzürcher Lehrerin A.L. stellt auch bei ihren Schülerinnen und Schülern fest, dass sie oft gewalttätige Inhalte konsumieren. Einmal hat ihr ein Schüler ein Video gezeigt, das er in einem Chat erhalten hat. Im Video war jemand zu sehen, dessen Kopf brutal gegen eine Scheibe geschlagen wurde. «Der Schüler meinte nur, das sei ganz normal und gar nicht so schlimm», sagt A.L. Auch die kontroverse Netflix-Serie «Squid Game», in der Erwachsene bei Kinderspielen umgebracht werden, fanden ihre Schülerinnen und Schüler nicht so brutal. Laut A.L. sagten sie, sie hätten «schon viel Schlimmeres» gesehen. A.L. ist überzeugt, solche Inhalte «verharmlosen alles».

Im Zürcher Oberland ist H.M. nicht bekannt, dass seine Schülerinnen und Schüler gewaltsame Videos schauen. «Ich gehe davon aus, dass die Schülerinnen etwas sagen würden, wenn sie solche Videos erhielten», sagt der Lehrer. Doch auch ihm seien ländliche Schulen bekannt, die viel mit Vandalismus und Schlägereien in der Pause zu kämpfen hätten. Trotzdem erlebte er das in seiner Zeit als Lehrer in der Stadt viel häufiger.

Brutale Inhalte sind «fast alltäglich geworden»

Laut Dirk Baier ist das Gewaltpotenzial auf dem Land ähnlich gross wie in der Stadt. «In einer im ländlichen Raum durchgeführten Umfrage haben fast 70 Prozent der männlichen Jugendlichen angegeben, eine Waffe – meist ein Messer – dabei zu haben», sagt Baier. Auch auf Social Media komme «ein Grossteil der Jugendlichen in Kontakt mit teilweise brutalsten Inhalten», sagt er weiter. «Das ist fast alltäglich geworden.»

Mit den verbotenen Inhalten wollen Jugendliche ihre Grenzen testen und ihre Identität entwickeln. «Dazu gehört all das, was von Eltern und anderen Autoritätspersonen als problematisch angesehen wird», erklärt der Experte. Ausserdem werde alles, was inszeniert sei, wie beispielsweise eine Netflix-Serie, von Jugendlichen als harmlos erkannt.

Die meisten sind nicht zu solchen Taten fähig

Laut Baier kann es sein, dass junge Menschen durch die mediale Brutalität abgestumpft werden. Trotzdem seien die meisten Jugendlichen zu schweren Gewalttaten gar nicht fähig. Rund 97 Prozent der Jugendlichen begehen keine Straftat. «Da muss mehr dazukommen als die medialen Vorbilder», sagt Baier.

Damit Jugendliche wirklich eine Gewalttat begehen, müssen sie auf irgendeine Weise von anderen Gleichaltrigen mitgerissen werden oder bereits Gewalt zu Hause erlebt haben, erklärt Baier. Ausserdem sei es «immer dann gefährlich, wenn man vulnerable Jugendliche hat, die sich viele gewaltsame Inhalte anschauen und versuchen, dies im Alltag ein Stück weit zu imitieren».

Der Dialog mit Jugendlichen ist zentral

Um Jugendliche für solche Inhalte zu sensibilisieren ist es laut Baier wichtig, die Thematik in der Schule zu besprechen und den Dialog mit den Kindern zu suchen. Auch die Schulsozial- sowie die Jugendsozialarbeit sollte einbezogen werden. Mit Sozialarbeitenden können Schülerinnen und Schüler beispielsweise besprechen, was so spannend an den gewaltsamen Inhalten auf Social Media ist. Laut Baier müssen sich aber «auch Eltern für ihre Kinder interessieren und mit ihnen den Dialog führen». Schlussendlich gehe es darum, Medienkompetenz in den Kindern zu verankern.

* Name der Redaktion bekannt.

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veröffentlicht: 11. April 2023 10:38
aktualisiert: 11. April 2023 10:38
Quelle: ZüriToday

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