Eskalationen im Zug

Hunderte Delikte pro Jahr – Angst fährt bei ÖV-Personal mit

07.07.2023, 08:29 Uhr
· Online seit 07.07.2023, 05:32 Uhr
Pöbeleien und Gewalt gegenüber Angestellten im öffentlichen Verkehr haben stark zugenommen. Mitarbeitende hätten teilweise Angst, zur Arbeit zu gehen, meldet der Personalverband Transfair. Manche lassen Billettkontrollen deshalb sogar bleiben.
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An seinem Arbeitsplatz kam der Lokführer verletzt an. Als er frühmorgens auf dem Weg zu seinem Zug über den Perron am Zürcher Hauptbahnhof lief, versperrten ihm drei Passanten den Weg. Einer von ihnen rempelte den Lokführer an. Mit einer Prellung an der Schulter schaffte der Lokführer es, seinen Dienst doch noch anzutreten.

«Weil die Schmerzen aber immer stärker wurden, musste er seinen Dienst in der Hälfte abbrechen und sich im Spital untersuchen lassen», berichtet Bruno Zeller, Branchenleiter öffentlicher Verkehr beim Personalverband Transfair gegenüber der Today-Redaktion.

Lokführerinnen und Lokführer sind nicht die einzigen Angestellten des öffentlichen Verkehrs, die immer wieder Attacken ausgesetzt sind. Belästigungen, Bedrohungen und Tätlichkeiten gegen das ÖV-Personal haben sich akzentuiert. «Mitarbeitende haben teilweise Angst, zur Arbeit zu gehen, weil sie sich nicht ausreichend geschützt fühlen.» Dies meldet die Mitgliederzeitschrift Transfair in ihrer aktuellen Ausgabe.

«Meiste Eskalationen bei Billettkontrollen»

«Alleine bei der SBB kommt es wegen Belästigungen, Bedrohungen und Tätlichkeiten gegenüber dem Personal zu mehreren hundert Offizialdelikten pro Jahr», sagt Bruno Zeller. Die meisten Eskalationen passierten im Zusammenhang mit Billettkontrollen. «Fahrgäste, die kein Billett haben und eine Busse bezahlen müssen, reagieren auch mit Tätlichkeiten.» Etwa schubsten sie die Billettkontrolleurin oder den -kontrolleur oder schlugen sogar drein.

Andere Schwarzfahrende beleidigen oder beschimpfen das Personal. «Manchmal sind die Attacken auch sexueller Natur», sagt Zeller. So würden Kontrolleurinnen und Kontrolleure angefasst oder mit anzüglichen Sprüchen konfrontiert. Manche Passagiere schrecken auch vor Drohungen nicht zurück. «Sie sagen dann, dass sie schon wüssten, wo die Person zu Hause sei», sagt Zeller.

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Vermehrt hat das Personal auch mit Passagieren zu kämpfen, die sich Anweisungen widersetzen. «Wenn der Lokführer ins Depot fährt, weigern sich zunehmend Passagiere, den Zug zu verlassen», sagt Zeller. Oft sei der Konsum von Alkohol oder Substanzen im Spiel.

Zeller vermutet, dass unter anderem die Pandemie den Aggressionen den Boden bereitete. In dieser Zeit seien Passagiere jeweils ausfällig geworden, wenn sie wegen Verstosses gegen die Maskenpflicht gerügt oder gar gebüsst worden seien. «Irgendwie sind solche Tätlichkeiten und Drohungen seither auf hohem Niveau geblieben.»

Kontrolleure hielten sich zurück

Dem ÖV entgehen wegen Schwarzfahrender jährlich Millionen von Franken. Da digitale Fahrausweise zunehmen, sind Reisende vermehrt ohne gültigen Fahrausweis unterwegs, wie die Today-Portale Anfang Jahr berichteten.

Die Angst vor pöbelnden Fahrgästen dürfte den ÖV-Betrieben noch mehr Verluste bescheren. «Es kommt vor, dass Kontrolleurinnen und Kontrolleure sich auf gewissen Strecken zurückhalten, weil sie sich dem Risiko einer Attacke nicht aussetzen wollen», sagt Zeller. Aus Angst könnten sie demnach ihren Job nicht mehr zu 100 Prozent ausführen.

Transfair fordert, dass die ÖV-Betriebe die Prävention für Mitarbeitende stärken, um die Angst vor solchen Situationen zu reduzieren. Nötig seien zum Beispiel Verhaltens- und Deeskalationskurse, sagt Zeller. «Auch muss die SBB-Transportpolizei aufgestockt werden, damit sich das Personal sicherer fühlt.»

«Vermehrt schwere Einzelfälle»

Andere Erfahrungen macht die SBB. «Die überwiegende Mehrheit der Kundenkontakte ist nach wie vor positiv», sagt Mediensprecher Moritz Weisskopf. Sie stellten derzeit keine Zunahme an Aggressionen fest. «Allerdings stellen wir vermehrt schwere Einzelfälle fest.» Dies werde auch in der Kriminalstatistik verschiedener Kantone und des Bundes als Tendenz aufgezeigt. «Für uns ist aber jede Aggression eine zu viel, denn für die von Aggressionen betroffenen Mitarbeitenden ist jeder einzelne Fall sehr gravierend.»

Die SBB empfiehlt den Mitarbeitenden, Aggressivität und Tätlichkeiten ausnahmslos anzuzeigen. Detaillierte Zahlen zu verbalen oder physischen Übergriffen gegenüber den Mitarbeitenden veröffentlicht das Unternehmen nicht. 

Transportpolizei könne bei Konflikten beigezogen werden

Handlungsbedarf, um die Prävention und die Sicherheit zu stärken, sieht die SBB nicht. «Die Sicherheit unserer Kundinnen und Kunden sowie unserer Mitarbeitenden steht für die SBB an erster Stelle», sagt Weisskopf. Entsprechend unternehme die SBB als verantwortungsbewusstes Unternehmen viel, um das eigene Personal möglichst gut auf unterschiedlichste Situationen im Arbeitsalltag vorzubereiten. «Unsere Mitarbeitenden sind für die Bewältigung schwieriger Situationen geschult und erhalten Unterstützung.»

Im Konfliktfall können die Mitarbeitenden laut Weisskopf Arbeitskolleginnen oder -kollegen oder bei Bedarf auch die Transportpolizei beiziehen. «Nach einem Vorfall steht den betroffenen Mitarbeitenden ein Care Team unterstützend zur Verfügung.» Auch seien vorgesetzte Stellen wie Teamleitende auf dieses Thema sensibilisiert und massen Schulung und Unterstützung der Mitarbeitenden grosse Bedeutung bei.

veröffentlicht: 7. Juli 2023 05:32
aktualisiert: 7. Juli 2023 08:29
Quelle: Today-Zentralredaktion

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