Krebsbehandlung

Wie eine Familie mit der Tumor-Diagnose der Tochter umgeht

· Online seit 05.03.2023, 08:26 Uhr
In der Schweiz erkranken jährlich etwa 350 Kinder und Jugendliche an Krebs. Auch wenn die Heilungschancen gut sind, stirbt immer noch fast jede Woche ein Kind an der Krankheit. ZüriToday hat mit einer betroffenen Familie über die niederschmetternde Diagnose gesprochen.
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Wenn eine Familie plötzlich aus dem Alltag gerissen wird, weil die Ärzte beim Kind einen bösartigen Tumor diagnostizieren, kommen nebst der psychischen Belastung für alle Beteiligten jede Menge Fragen auf, über die man sich zuvor nie Gedanken gemacht hatte. Warum auch? Es war ja bisher alles gut.

Der Familie Kälin* aus dem Kanton Thurgau, geht es genau so. Tochter Ella* klagt eines Tages über Bauchschmerzen. Die Mutter nimmt das nicht so ernst, denn mit 13 kann das schon mal vorkommen, insbesondere weil Ella erst kürzlich ihre Periode bekommen hat. Auch isst sie liebend gerne Süssigkeiten, oft zu viele, also denkt man sich nichts dabei und gibt ihr einen Tee. Der hilft wenig, Ella geht es rapide schlechter. Mutter Sabine* bringt sie schliesslich zum Hausarzt, der aber nichts feststellen kann. Er rät Sabine, der Tochter ein Abführmittel zu geben, denn sie sei wohl verstopft.

Die vermeintliche Verstopfung ist ein Tumor

Doch Ella spürt, dass dies nicht sein kann und nach einem weiteren Leidenstag geht die Familie ins örtliche Spital. Man schaut nun genauer hin. Und ein Wettlauf gegen die Zeit sollte folgen. Ella lag nicht falsch, verstopft ist sie nicht, denn man stellt einen bösartigen Tumor bei einem Eierstock fest und dazu eventuelle Ablagerungen in der Lunge.

Ellas Blutwerte sind zu dem Zeitpunkt schockierend. Normalerweise ist der Tumormarker, das sogenannte Alpha-Fetoprotein (AFP), bei Kindern und Erwachsenen nur in sehr kleinen Konzentrationen im Blut nachweisbar. Werte unter 20 Nanogramm pro Milliliter gelten als normal. Bei Ella liegt der Wert bei 68'000 Nanogramm pro Milliliter. Sofort wird eine Operation veranlasst. Rund eine Woche nach der Diagnose ist Ella im Ostschweizer Kinderspital auf der Onkologie-Abteilung. Bereit, den Tumor entfernen zu lassen.

Plötzlich aus der Bahn geworfen

Von den Schulkameradinnen und ihrem Fussballverein konnte Ella sich gerade noch verabschieden, zahlreiche Zeichnungen und Fotos zieren nun das Krankenzimmer, die Anteilnahme ist riesig. Der Schock bei der Familie ebenfalls. Die Ärzte entfernen die bösartige Geschwulst, die jetzt über doppelt so gross ist als noch wenige Tage zuvor bei der Diagnose. Diese lautete: Keimzellentumor, Gattung Dottersack. Man amputiert Ella einen Eileiter und einen Eierstock. Ob sie jemals noch Kinder werde bekommen können, fragen sich die Eltern.

Die anstehende Chemotherapie würde den noch vorhandenen Eierstock beschädigen, aber man könne ihn mit einer «Schutzspritze» retten, heisst es. Alle 21 Tage würde es eine geben und Ella dadurch in einen Postmenopause-Zustand versetzt. Sprich: Mit 13 Jahren hormonell gesehen in den Wechseljahren. Allerdings werde diese Therapie erst ab 16 Jahren von der Krankenkasse bezahlt, sagt man der Familie. Fragen kommen auf: Würde man die ganze Behandlung finanziell überhaupt stemmen können?

Der Alltag nach der Schock-Diagnose

Die Familie muss jetzt schon über das Schicksal des 13-jährigen Mädchens bestimmen. Man entscheidet sich für die Spritzen. Bald bekommt Ella eine Perücke. Die Mutter kann es nicht ertragen, dass das Mädchen seine Haare praktisch büschelweise am Esstisch verliert. Denn nun muss Ella vier Chemotherapie-Sitzungen während mehrerer Wochen über sich ergehen lassen. Die Ärzte wissen zu dem Zeitpunkt nämlich noch nicht, ob die vermeintlichen Ablagerungen in der Lunge bösartig sind oder es sich bei den Schatten auf dem Röntgenbild nur um harmlose Luftbläschen handelt.

Die Spital-Aufenthalte dauern jeweils ein bis zwei Wochen, danach kann das Mädchen für zwei Wochen heim. Die Familie organisiert sich. Ellas zwei kleine Schwestern begleiten sie oft ins Spital. Ein Elternteil ist durchgehend bei ihr. «Ich kann glücklicherweise Homeoffice machen und das auch im Spital, wenn ich bei Ella bin», sagt Vater Kurt*. Die Mutter wird fürs Erste krankgeschrieben, bis man einen Rhythmus gefunden hat. Sie entscheidet sich dann aber, wieder zweimal pro Woche zu arbeiten. «Zwar ist es sehr gut geregelt, wenn sowas passiert. Das Kinderspital organisiert das mit dem jeweiligen Arbeitgeber», erklärt Sabine. Dennoch hat sie Angst, bei längerer Dauer von Ellas Therapie, ersetzt zu werden im Job.

Finanzielle Erleichterung für die Familie 

Wenn es Ella nach den Behandlungen schlechter geht, und die Eltern sie wieder ins Spital fahren müssen, springen oft die vier Grosseltern ein. «Denn irgendwann holt einen der Alltag ein, mit Waschen, Putzen, Kochen und Aufgabenhilfe für die anderen Mädchen», so Sabine.

In Ellas Fall gibt es Glück im Unglück – wenn man in dem Fall überhaupt von so etwas reden darf. Man stellte fest, dass sie schon seit Geburt einen embryonalen Keimzellentumor hatte. Aber dieser wuchs bislang nicht, und war bis zur Pubertät «still». Sie wurde als IV-Fall eingestuft. Und somit werden alle Behandlungen bezahlt. Erleichterung in der Familie, denn die Invalidenversicherung kümmert sich ab sofort um sämtliche Belange.

Ungewisse Zukunft

In die reguläre Schule darf Ella vorerst nicht mehr, denn die Ansteckungsgefahr für Grippe oder Erkältungen ist während den Behandlungen zu gross. Ein Lehrer kommt sie täglich zwei Stunden zu Hause unterrichten. Auch im Spital gibt es eine Lehrperson, die Ella den Stoff der Oberstufe vermittelt, solange sie dort sein muss. Sie bekommt Physiotherapie, um nach dem langen Liegen wieder Muskulatur aufzubauen.

Es gibt immer wieder Rückschläge, denn die Krebs-Therapie verläuft nicht immer nach idealem Drehbuch, und auch nicht nach Kalender. Wenn die Blutwerte der alle drei Tage stattfindenden Kontrollen schlecht sind, muss Ella bis zur nächsten Chemo warten. Und die Tage im Spital sind oft einsam. «Interessanterweise gibt es kaum Kontakt zu anderen betroffenen Familien innerhalb des Spitals. Das ist schade», sagt Sabine, denn ein Austausch untereinander wäre doch wünschenswert.

«Haare werden wieder wachsen»

Gerade ist Ella enttäuscht: Ihre Klassenkameraden fahren ins Skilager und sie hätte sich so sehr erhofft, dabei sein zu können nach der letzten Therapie. Doch noch ist diese nicht zu Ende. Was die Folgen sind und was bleibt, wenn Ella in ein paar Wochen fertig sein wird mit der Chemo, und hoffentlich für immer tumorfrei? Vater Kurt erklärt: «Es werden engmaschige Kontrollen folgen, alle drei Monate muss sie sicher die Blutwerte kontrollieren gehen. Die Narbe an ihrem Bauch wird bleiben, sie ist unübersehbar gross.» Aber solange sie gesund sei, störe es sie nicht, sagt Ella. «Und die Haare werden wieder wachsen. Bis es so weit ist, habe ich ja noch die Perücke.»

In einem weiteren Artikel wird ZüriToday über vorhandene Hilfs-Angebote berichten, die eine Familie und betroffene Personen nach einem solchen Schicksalsschlag in Anspruch nehmen können.

*Namen der Redaktion bekannt.

veröffentlicht: 5. März 2023 08:26
aktualisiert: 5. März 2023 08:26
Quelle: ZüriToday

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