Zürich

Unter Falltüren und in kleinen Gassen versteckt sich Zürcher Geschichte

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Unter Falltüren und in kleinen Gassen versteckt sich Zürcher Geschichte

17.10.2022, 10:40 Uhr
· Online seit 10.10.2022, 07:15 Uhr
Schon mal durch die Falltür im Lindenhof hinabgestiegen? Oder den Spuren von Zürichs WC-Stories gefolgt? Gerade für den Herbst hat Zürich in Sachen Wissen und Kultur einiges an verborgenen Schätzen zu bieten. Diese archäologischen Fenster sind sogar gratis.

Quelle: Das sind die archäologischen Fenster von Zürich / Mai 2022

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Mit einem steten Piepsen öffnet sich die Falltür am Lindenhof und gibt die Treppe in den Untergrund frei. Der Leiter der Stadtarchäologie, Stephan Wyss, sichert die Tür zum ersten archäologischen Fenster auf unserer Tour mit einer roten Querstrebe. Eine nötige Sicherheitsvorkehrung. «Vor Jahren wurde hier mal jemand eingeklemmt. Jetzt kann das nicht mehr passieren», lässt uns Wyss wissen.

Die Holzdielen im Untergrund knarren und der leicht modrig feuchte Geruch von Geschichte steigt einem in die Nase. Plötzlich stehen wir zwischen alten römischen Mauerresten. Wir befinden uns inmitten des alten Zürichs. Genau hier beginnen unsere Reise und die Erzählungen des Archäologen.

ZüriToday: Was bedeutet der Begriff «archäologisches Fenster»?

Stephan Wyss: Archäologische Fenster sind eine Zürcher Besonderheit, die es bereits seit 80 Jahren gibt. In unserer Stadt hat man an 25 Orten die Möglichkeit, Geschichte zu erleben, und zwar dort, wo sie sich wirklich abgespielt hat. Sie wird nicht ins Museum gebracht, sondern man geht selbst an die Orte.

Und wie kommt man an diese Orte?

Einige sind frei zugänglich. Man kann einfach hinlaufen und sie anschauen. Für die anderen, die wie kleine Museen sind, für die muss man einen Schlüssel abholen. Das geht ganz einfach im Stadthaus im Erdgeschoss.

So einfach?

Ganz genau. Es ist relativ einfach und es ist auch gratis. Man holt die Schlüssel, geht raus in die Stadt und ist völlig frei, was man anschauen möchte. Anders als in einem Museum hat man auch nicht den Zwang, dass man eine Stunde vor einem Objekt verbringen muss. Man kann nach Gutdünken wieder raus und sich das nächste Abenteuer suchen.

Gibt es auch offizielle Führungen?

Ein bis zweimal im Jahr gibt es Führungen mit den Fachspezialistinnen und Fachspezialisten der Stadtarchäologie die wir, ebenfalls gratis, für die Stadt organisieren. Es gibt aber auch die Möglichkeit, als Privatperson touristische Führungen zu buchen.

Wie viele Menschen holen sich jährlich Schlüssel für die Fenster?

Wir bewegen uns bei rund 30'000 Besucherinnen und Besuchern. Das ist auch darum spannend, weil wir uns damit im vorderen Drittel der Zürcher Museen befinden. Die Fenster hat man lange auch schon als dezentrales Stadtmuseum bezeichnet. Ich würde heute aber nicht von einem Museum sprechen – denn die Archäologischen Fenster zeigen Geschichte immer am Ort des Geschehens und sie sind niederschwellig: Man ist frei wie lange man sich dort aufhält, man kann sie spontan besuchen und das Angebot ist kostenlos. Eben weil man sie unabhängig und frei besuchen kann. Das macht wohl auch den speziellen Reiz aus.

Wem empfehlen Sie einen Besuch der Fenster?

Den empfehle ich allen Zürcherinnen und Zürchern oder allen Gästen, die hier in Zürich sind und Freude an Geschichte und Archäologie haben. Aber auch allen, die damit gar nichts am Hut haben. Allein das Erlebnis in diese Fenster einzutauchen wenn man in die Keller hinuntersteigt, wie es dort riecht wenn man in den Raum eintaucht – das ist etwas, das fasziniert und speziell auch für Familien interessant ist.

Gibt es Probleme mit Vandalismus oder Diebstählen?

Bisher hatten wir wenig Probleme mit Vandalismus. Insbesondere, weil man ja seine Personalien angeben muss, wenn man sich einen Schlüssel ausleiht. Vielleicht mal eine Infotafel an der etwas abgefriemelt wurde, oder ein lockerer Stein. Das ist aber nicht weiter tragisch. Littering ist ein grösseres Thema, zum Beispiel beim Fenster an der Thermengasse. Das ist etwas, das wir angehen müssen.

Reliquien aus längst vergangenen Zeiten

Auf dem Weg vom Lindenhof hinab zeigt uns Wyss einen Grabstein eines römischen Buben. Wie er sagt, das wichtigste schriftliche Dokument zum römischen Zürich und der dortigen Zollstation, auch bekannt als «Turicum».

Was Wyss mit dem Problemthema Littering meint, zeigt sich etwas weiter bei der Thermengasse. Neben antiken Fundstücken wie Haarnadeln, die beim Baden verloren gingen, findet man unter dem Gitter-Fussboden unzählige Zigarettenstummel, Feuerzeuge und anderes, was Menschen achtlos wegwerfen.

Geköpfte Stadtheilige unter Wasser

In der Krypta der Wasserkirche erfahren wir mehr über die beiden spätantiken Stadtheiligen Felix und Regula. Zu bestaunen gibt es im Untergrund den Märtyrerstein. Auf dem Findling inmitten der Krypta sollen die Geschwister seinerzeit enthauptet worden sein.

Die Wasserkirche stand früher auf einer Insel in der Limmat und musste daher immer wieder mal etwas höher gebaut werden, was an verschiedenen Mauerfundamenten gut erkennbar ist.

Eine enge Gasse und ein Scheiss-Job?

Die letzte Tür führt uns zum Ehgraben im Oberdorf. Ein Ehgraben bezeichnet den schmalen, unbebauten Teil zwischen zwei Häusernzeilen und wurde zur Fäkalien-Beseitigung genutzt. Wyss erzählt uns, dass dort die menschlichen Ausscheidungen gesammelt wurden – und welche wirtschaftliche Bedeutung sie lange Zeit hatten.

In der Mauer sind noch die Aussparungen zu sehen, wo nach der sogenannten Kloakenreform um 1867 einst Sammel-Eimer standen. Weil Fäkalien lange auch als Düngemittel genutzt wurden, die Geld brachten, sammelten Arbeiter den ganzen Kot ein und führten ihn seiner Bestimmung zu. Vielleicht überlegt es sich ja der eine oder die andere nach einem Besuch hinter dieser speziellen Tür zweimal, bevor vom eigenen «Scheiss-Job» gesprochen wird.

Der Weg, der nach draussen führt, wird immer schmaler und zum Schluss quetschen sich die Besuchenden durch eine schmale Tür ins Freie, zurück ins Zürich der Gegenwart.

veröffentlicht: 10. Oktober 2022 07:15
aktualisiert: 17. Oktober 2022 10:40
Quelle: ZüriToday

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