Herr Berger, Sie leiten den Notfall der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Wie hat sich die Situation der Jugendlichen und Kinder in psychiatrischer Behandlung nach Corona und den Massnahmen entwickelt?
Berger: Corona und die damit zusammenhängenden Massnahmen waren natürlich ein enormer Einschnitt in unser Leben. Umso mehr für Kinder und Jugendliche, die oft noch lernen müssen, mit Krisen und Herausforderungen umzugehen. Mit den Schulschliessungen fiel zwar ein wenig Druck für die jungen Menschen weg und die psychiatrischen Notfallkontakte sanken während des Lockdowns. Aber als dann die Lockerungen kamen, stiegen die Zahlen über das erwartete Mass rasant an.
Weshalb?
Meiner Meinung nach, weil jene, die sonst schon Schwierigkeiten hatten, Alltag, Schule, Sport und all die anderen Herausforderungen zu meistern, auf einmal komplett überfordert waren. Es kam zu einem regelrechten Tsunami an Anfragen und Notfällen. Seither waren die Zahlen bis zum Sommer 2022 extrem hoch.
Die Erbetene (6) kommt gerade zu mir und sagt: "Ich habe so einen Druck in mir, der mich zum weinen bringt. Und ich weiss nicht warum."
— DerGaertnerImLicht (@DerDunkleGarten) November 21, 2022
Depression Du mieses unerträgliches Monster. Lass meine Kinder in Ruhe...#NotJustSad
War dies zu erwarten?
Die allermeisten Expertinnen und Experten hatten eigentlich damit gerechnet, dass sich die Situation bald nach dem Ende der Corona-Massnahmen beruhigen würde. Heute wissen wir es besser. Die Entwicklung, die zu der dramatischen Situation in den psychiatrischen Einrichtungen für junge Menschen geführt hat, liegt tiefer, hat komplexere Ursachen. Corona war hier ein Katalysator für eine Reihe von bestehenden Belastungsfaktoren. Und führte dazu, dass Einrichtungen wie unsere anfangs all die vielen Anfragen nicht mehr so abdecken konnten, wie wir uns das gewünscht hätten.
Sie sprechen von komplexen Ursachen. Was sind ihrer Meinung nach die wichtigsten?
Das ist zum einen sicherlich der Medienkonsum der Jugend. Dieser stieg während der Pandemie um über ein Drittel. Stichwort: Social Media. Dieser Konsum hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Mit oft negativen Folgen wie Schlafmangel, Überflutung an Reizen, zu starker Vergleich mit anderen, Mobbing. Dazu kommt ein oft nicht gesunder Lebensstil. Wenig Sport, früher Kontakt mit Drogen, schlechte Ernährung. Aber auch Faktoren wie das Wegfallen von sozialen Strukturen, das «Entwurzelt werden», etwa wenn die Eltern des Jobs wegen umziehen. All diese Faktoren können für einen jungen Menschen schnell überfordernd sein.
Und wie ist die Situation auf den psychiatrischen Notfall-Stationen aktuell?
Es gibt erste erfreulichere Entwicklungen und Anzeichen dafür, dass wir die Situation besser bewältigen als noch während beziehungsweise kurz nach Corona und den dazugehörigen Massnahmen. Dies hängt aber – und das ist der springende Punkt – nicht damit zusammen, dass weniger Menschen an psychischen Krankheiten leiden und unsere Hilfe aufsuchen.
Können Sie das genauer erklären?
Die Nachfrage in Bezug auf unsere Betreuung und medizinische Beratung ist nach wie vor sehr hoch. Mittlerweile sind wir aber in der Lage, mit dieser hohen Nachfrage besser und koordinierter umzugehen. Es wurde ja im Juni 2021 ein Notkredit gesprochen und rund acht Millionen Franken in die Einrichtungen des Kantons investiert. Damit wurden vor allem neue Stellen und Angebote geschaffen, um mehr Kindern und Jugendlichen helfen zu können. Diese Entwicklung ist erfreulich.
Am Montag hat der Kanton darüber informiert, noch weiter zu investieren. 5,5 Millionen Franken, mehr Personal, mehr Betten. Stimmt Sie das zuversichtlich?
Ja, es lässt mich hoffen, dass wir damit die Situation in den Griff bekommen. So bin ich zum Beispiel im Aufbau des Notfalls oder der Angebote für Minderjährige in psychischen Krisen im Rahmen des Massnahmepakets involviert und freue mich, dass der Kanton sich des Problems bewusst ist und dieses angegangen ist.
Nichtdestotrotz bleibt anzumerken, dass diese Gelder nicht die eigentlichen Probleme – übermässiger Medienkonsum, Leistungsdruck, Stress – tackeln. Sondern dann einsetzen, wenn die Patientinnen und Patienten schon krank sind und eine Behandlung aufsuchen.
Das ist richtig. Langfristig müssen sicher andere Lösungsansätze gefunden werden als psychiatrische Angebote auszubauen, die den Kindern in einer Depression, bei Suizidgedanken oder Essstörungen helfen. Es muss zu einem regelrechten Umdenken in unserer Gesellschaft kommen.
Inwiefern?
Wir müssen endlich anerkennen, dass psychische Gesundheit ein enorm wichtiger Faktor in unserem Leben ist. Ein Faktor, der vor allem in Entwicklungsphasen wie der Kindheit und der Pubertät extrem gefährdet ist. Ich träume von einem Schulfach zum Thema «Psychische Gesundheit», von einem breiten Präventionsangebot und aktiven Schulungen von Schnittstellen, die bei der Früherkennung von Depressionen und anderen Krankheiten helfen können.
Sind Sie optimistisch, was die Zukunft betrifft?
Wie gesagt, die Entscheide des Kantons der letzten Jahre sind aus meiner Sicht erfreulich. Immer mehr Menschen werden in puncto psychische Gesundheit sensibilisiert und das ist gut so. Nun liegt es aber auch an uns, an Eltern, Lehrern, aber auch Familienmitgliedern und Freunden mit anzupacken. Die Gesellschaft muss Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebensphasen unterstützen, die jungen Menschen befähigen, mit dem Druck umzugehen und zu einer Gemeinschaft beitragen, in der keiner auf der Strecke bleiben sollte. Hier kann jeder seinen Part tun.