Tag der Taubblindheit

So fühlt es sich an, Zmittag zu essen, ohne zu sehen und zu hören

07.03.2024, 10:47 Uhr
· Online seit 27.06.2023, 11:39 Uhr
Vom 17. Juni bis 1. Juli findet in diversen Schweizer Restaurants die Aktion «Zu Tisch!» statt. Menschen essen mit schwarzer Brille und Ohrstöpseln, um eine Hörsehbehinderung zu simulieren. Wie isst es sich mit eingeschränktem Seh- und Hörsinn?

Quelle: ZüriToday/Olivia Schär

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Etwas verloren stochere ich mit meiner Gabel im Teller herum und versuche, irgendwie mehr als nur Krümel meiner Knödel zu erwischen. Ich scheitere kläglich. Mehrmals fährt die Gabel ohne Knödel zu meinem Mund. Die Sommerhitze staut sich in dem kleinen Lokal in der Konradstrasse im Zürcher Kreis 5. Ich spüre, wie der Mann zu meiner Linken mehrmals auf den Tisch klopft. «En Guete!» Dumpf dringt die Übersetzung der Frau, die mir gegenübersitzt, an mein Ohr.

Zu Tisch am Tag der Taubblindheit

Ich sitze im Fink's, einem Südtiroler Restaurant, das Teil der Aktion «Zu Tisch! Mit Hörsehbehinderung und Taubblindheit» ist – eine Gemeinschaftsaktion der Schweizer Gastronomie und von Organisationen für Menschen mit Hörsehbehinderung.

Während zweier Wochen können Menschen in 58 Restaurants in der ganzen Schweiz einen Selbstversuch wagen. Vor ihnen auf den Tischen liegt ein Set, in das eine Brille hineingestanzt ist. Mit der Brille soll eine starke Sehbehinderung während des Essens simuliert werden. Wer will, kann beim Restaurant-Personal nach Ohrstöpseln fragen, um taubblind zu essen.

Das mache ich heute. Bald werden in meinen Ohren Ohropax stecken und meine Augen werden von einer Kartonbrille bedeckt sein  – pechschwarz, nur mit einem kleinen Loch ausgestattet. Für einmal esse ich ohne zu sehen und ohne zu hören.

«Es ist so, als würde man durch einen Nebel schauen»

Beat Marchetti heisst der Mann, der mir via Klopfen einen guten Appetit wünschte. Beat ist 52 Jahre alt, kommt aus Stäfa und ist Vater von drei Kindern. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und hat ein braunes Baseball-Cap auf dem Kopf. Seine blauen Augen sind aufgeweckt und funkeln, wenn er spricht. Er hat stets ein kleines Lächeln auf dem Mund.

Auch Beat isst taubblind zu Mittag. Jedoch ohne Brille und ohne Ohrstöpsel. Er kam gehörlos zur Welt und seine Sehkraft nahm im Laufe der letzten Jahre kontinuierlich ab. Er ist vom Usher-Syndrom betroffen. «Ich habe einen ganz, ganz starken Röhrenblick», erklärt er mir. «Es ist so, als würde man durch einen Nebel schauen.» Das Baseball-Cap schützt ihn vor dem blendenden Licht.

Taktile Gebärdensprache

Beat ist nicht alleine ins Restaurant gekommen. Silvia und Tanja sind dabei. Silvia ist eine freiwillige Mitarbeiterin des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen (SZBLIND). Sie hat Beat heute ins Restaurant begleitet. Tanja ist Gebärdensprachdolmetscherin und übersetzt mir in Lautsprache, was Beat in Gebärdensprache sagt. Wenn ich spreche, gebärdet Tanja. Beat legt gleichzeitig seine Hand auf Tanjas Hände. Er fühlt ab, was ich sage. Das ist die taktile Gebärdensprache.

Ob er gerne Knödel habe, frage ich Beat. Er zuckt mit den Schultern: «Ich weiss es nicht!» Wir werden es herausfinden. Der Knödel-Duft hat mittlerweile jede Ecke des Fink's erreicht. Ein Gemisch aus Kartoffeln, Kräutern und Käse steigt mir in die Nase. Ulli vom Restaurant bringt uns die Teller. Zeit, Brille und die Ohropax zu montieren.

Beat isst lieber alleine – jedoch unfreiwillig

Es ist eine ungewohnte Situation. Von hinten links höre ich dumpf die Stimmen vom Nachbartisch. Von rechts versucht mich der Zürcher Strassenverkehr durch die offene Türe zu erreichen. Die Geräusche gelangen nicht hell, nicht klar zu mir. Nicht, wie ich es mir gewohnt bin.

Die Stille ist angenehm in der stets so lauten Stadt. Die Dunkelheit, die sich über meine Augen legt, lässt meine Gedanken in die Ferne schweifen.

Doch die Ruhe fühlt sich auch seltsam an. Ich esse mit mir alleine, obwohl ich in Gesellschaft bin. Als sässe nur ich hier am Tisch, alleine mit meiner Gedankenwelt. Etwas, das auch Beat kennt. Und etwas, das «Zu Tisch» demonstrieren will.

Beat erzählt mir, dass er lieber alleine als in Gesellschaft isst – jedoch nicht freiwillig. «Ich fände es wunderschön, in der Gemeinschaft zu essen. Aber in der Gruppe fühle ich mich oft einsam, weil ich nicht mitbekomme, was läuft», sagt er. Darum esse er lieber alleine. «Ich bin lieber alleine als einsam in der Gruppe.»

Schön essen? Schwierig

Ich kämpfe währenddessen mit meinem Mittagessen und teile es Beat mit. «Du wirst es überleben», sagt er und schmunzelt. «Wie merke ich, ob ich ein Stück Knödel auf meiner Gabel aufgespiesst habe?», frage ich mich in Gedanken, während die Gabel ein Schlachtfeld auf dem Teller anstellt. Mehrmals hebe ich die Gabel zu meinem Mund – und werde enttäuscht. Kein einziges Stückchen Knödel klebt dran fest. Hilft es, den Knödel zu zermatschen? Ich möchte aber auch nicht, dass alles auf dem Boden landet.

Ich frage Beat, ob das auch für ihn ein Problem sei. «Man ‹säulet› immer wieder», erklärt er mir. Das gehöre dazu. «Wenn ich die Wahl habe zwischen Salat und Suppe, wähle ich die Suppe – obwohl ich lieber Salat hätte. Doch beim Salat gäbe es nur eine Sauerei.» Am einfachsten sei es, wenn alles im Teller vermischt sei – wie beim indischen Essen – Beats Lieblingsessen. Warum? «Ich glaube, die Gewürze, die in der indischen Küche vorkommen, machen es aus. Es ist ein sehr intensiver Geschmack», sagt er.

Das kleine Loch in der Brille macht grosse Probleme

Eine Sauerei zu machen, das droht auch mir heute. Nicht nur das Essen, auch das Trinken finde ich herausfordernd. Wo ist das Wasserglas überhaupt? Ich finde es schnell. «Das war ja mega einfach», denke ich mir. Doch zu früh gefreut. Während ich das Glas kippe, schwappt ein Teil des Wassers über den Glasrand – und statt in meinem Mund landet es irgendwo daneben. Ich habe nicht damit gerechnet, dass das Glas so voll ist!

Nach etwa zehn Minuten konzentriertem Knödel-Aufspiessen fragt mich Beat, ob ich denn nichts sehen könne durch das kleine Loch in der Brille. Kleines Loch in der Brille? «Ich sehe gar nichts», entgegne ich ihm. Und dann fällt mir auf: Ich hatte die Augen die ganze Zeit geschlossen! Warum? Das weiss ich selbst nicht.

Der Restaurantbesuch strengt an

Manchmal sei es einfacher, vollständig blind zu sein, als noch ein bisschen zu sehen, findet Beat. Man müsse sich weniger konzentrieren. «In gewissen Situationen ist es entspannter, einfach nichts zu sehen.»

Und ja, das fällt mir auch auf. Jetzt, wo ich die Augen offen habe. Es prallen wieder viel mehr Reize auf mich ein – nur weil ich wieder teilweise sehe. Es ist anstrengend. Mein Hirn ist stark gefordert. Ungewohnt überfordert sogar. Ich versuche, mich durch das kleine Loch im Restaurant zu orientieren. Schwierig. Mein Blickfeld muss ich mir wie ein Puzzle aus kleinen Stücken zusammensetzen.

Etwas Gutes hat das kleine Loch jedoch allemal: Das Knödel-Essen ist viel, viel einfacher geworden!

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veröffentlicht: 27. Juni 2023 11:39
aktualisiert: 7. März 2024 10:47
Quelle: ZüriToday

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