«Erzfeind: Älplermagronen»

Ein Expat erzählt, was er an Zürich genial findet – und was ihm richtig auf die Nerven geht

09.08.2022, 12:45 Uhr
· Online seit 03.08.2022, 08:22 Uhr
Seit über vier Jahren lebt und arbeitet unser Redaktor in Zürich. Im verhassten Sommerloch hat er endlich einmal Gelegenheit, zu schreiben, was er an der Stadt liebt. Und was ihn weiterhin zur Weissglut treibt.
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Patriotisch, konfliktscheu, überpünktlich, teuer... die Vorurteile, die ich von der Schweiz und ihren Bürgerinnen und Bürgern hatte, bevor ich vor Jahren ins Land gezogen bin, waren mannigfaltig. Die allermeisten entpuppten sich glücklicherweise tatsächlich nur als Vorurteile, manche Kritikpunkte halten sich hartnäckig bis heute. Hier kommen die fünf Punkte, die ich an Zürich und der Schweiz tatsächlich liebe. Und fünf Punkte, die ich weiterhin einfach nicht verstehen will.

Die famose «Bauabsteckung»

Sicherlich eines der ersten typisch-schweizerischen Phänomene, das mir wortwörtlich anfangs ins Auge stach, waren die meterhohen Pfähle und Eisengerüste auf brachen Bauflächen. «Das sind Absteckigspfiiler» hiess es staubtrocken und etwas verwundert auf meine Frage nach deren Sinn. Und - verdammt nochmal - ergeben die Teile Sinn. Meine Begeisterung über die einfache und doch geniale bauliche Eigenart hängt vermutlich auch mit der Tatsache zusammen, dass ich aus Italien stamme. Einem Land, wo lieber zuerst gebaut – natürlich meistens stümperhaft gebaut – wird, dann der erste Streit aufkommt, weil die eine Mauer trotzdem ein paar Zentimeter zu weit geht. Schliesslich kommt es zum Prozess, der sich jahrelang hinzieht und am Ende wegen Verjährung eingestellt werden muss. Mit der famosen «Bauabsteckung» solch ein gerichtliches Tal der Tränen zu umgehen, erscheint mir demnach mehr als sinnvoll. Schweiz: 1. Alle anderen: 0.

Zürisäcke

Sie mögen zwar teuer sein und der Italiener in mir flucht immer mal wieder, wenn sich daheim der Müll nur so stapelt und ich keine Säcke zur Verfügung habe. Aber sie ergeben einfach Sinn: die Zürisäcke. Nicht nur animieren sie dazu, weniger Müll zu produzieren und auch noch so kleine Reste in den Sack zu pressen bis dieser so voll ist, dass ich ihn immer mit Samtpfoten in die Tonne ins Erdgeschoss trage, aus Angst davor, er könnte im Treppenhaus reissen und zur Mülllawine mutieren. Die Säcke folgen auch der fairen Logik: Wer mehr Müll produziert, der zahlt auch mehr für dessen Entsorgung. Punkt, basta, keine Diskussion. Ich kenne das sonst anders: Alle zahlen gleich viel, egal ob der Nachbar tagtäglich kiloweise Müll produziert, während ich Monate brauche, um auf dieselbe Menge zu kommen. Fazit: Müllsystem unterschreibe ich.

Saubere Flüsse, klare Seen

Es ist ein Plus, das vor allem jetzt in Sommer kaum zu leugnen ist. Hola die Waldfee, die Gewässer in diesem Land sind tatsächlich unschlagbar sauber. Keine zwanzig Meter von Hochhäusern und riesigen Firmen entfernt, kann man in die türkisblaue Limmat tauchen und bei etwas Glück auch noch putzmuntere Fische beobachten. Kein widerliches graues Nass, kein beissender Geruch, kein Müll, der im Wasser treibt. Beneidenswert.

Ämter

Richtig gehört. Ich liebe Zürcher Ämter. Zwar kostet jeder Wisch, jedes noch so nichtige Dokument immer auch seine 50, 60, 70 Stutz, aber wenigstens ist die Sache damit erledigt - und zwar zügig. Zum Verständnis: Wer in einem Land gross wird, wo es bei öffentlichen Ämtern gerne mal heisst: Sie erreichen uns am Montag und Donnerstag von 10 bis 11:30, gibt sich natürlich mit wenig zufrieden. Nichtsdestotrotz finde ich, verdient die Zürcher Beamtenwelt auch einmal Lob. Meistens erreichbar, meistens verständnisvoll, ich war immer zufrieden. Ein Bravo an die Beamten.

ÖV

Bei diesem Punkt werden vermutlich die allermeisten Schweizer mit dem Kopf schütteln. Aber ich will auch über den öffentlichen Verkehr kein schlechtes Wort verlieren. Im Gegenteil: Während ich in Italien schon zufrieden bin, wenn es im Regionalzug bei 36 Grad im Abteil ausnahmsweise mal möglich ist, das Fenster zu öffnen, freue ich mich hier fast auf jede Bus-, Zug- oder Tramfahrt. Sauber, so gut wie immer pünktlich und einfach genial abgestimmt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal länger als 10 Minuten auf meinen Anschluss gewartet habe. Appell an euch Schweizer: Nicht zu viel jammern über den ÖV. Es geht auf jeden Fall deutlich schlechter.

Sowohl. Genug des Lobes. Nun kommen meine Kritikpunkte für Dinge, die ich immer noch nicht nachvollziehen kann, nicht verstehe oder schlichtweg nicht fair finde.

Wahlrecht

Es ist sicherlich eines der strittigsten Themen und ich kann verstehen, wenn so mancher Schweizer verhindern will, dass Expats wie ich abstimmen und wählen dürfen. Einsehen will ich das trotzdem nicht. Eines der ältesten demokratischen Prinzipien lautet: No taxation, without representation. Keine Steuerlast ohne politische Vertretung. Und politisch vertreten fühle ich mich verständlicherweise nicht. Obwohl ich ganz brav meine Steuern zahle. Das ist frustrierend. Und so geht es Tausenden anderen Expats, die hier leben, arbeiten und Steuern zahlen. Die Frustration führt dazu, dass ich mich weniger mit der Politik im Lande auseinandersetze. Was im Umkehrschluss dazu führt, dass ich mich sicherlich weniger gut hier einlebe und integriere. Meiner Meinung gibt’s hier Handlungsbedarf. Ich würde dafür stimmen.

Die verhassten Wanderwege

Soviel vorweg: Ich komme aus Südtirol. Einer touristischen Hochburg, die Besucherinnen und Besucher gerne jegliche Mühe abnimmt und so auch Wanderwege dermassen penibel ausschildert, dass wirklich auch der Allerletzte seinen Weg zu Knödel, Speck und Apfelstrudel schafft. Meine Ansprüche sind demnach sehr hoch. Nichtdestotrotz muss ich sagen: Bei Schweizer Wanderwegen gibt es schon noch deutlich Luft nach oben. Dass ich bei jeder Wanderung auf irgendeiner lausigen App nachlesen muss, wo man wann wie abbiegen muss, weil Schilder am Weg echte Mangelware sind, nervt mich als verwöhnten Bergfreund ungeheuerlich. Beim Wandern würde ich gerne unbeschwert drauflosgehen können, nicht immer wieder Fremde fragen müssen, umdrehen oder im Kreise gehen. Vielleicht verlauf ich mich beim nächsten Mal ja endgültig am Berg, dann stört sich ein Expat weniger an den Wegen.

Der Zürcher Hauptbahnhof

Apropos Orientierung. Auch aus dem Zürcher Hauptbahnhof werde ich nach wie vor nicht schlau. Mittlerweile habe ich es aufgegeben, den beinahe mystischen Aufbau des Knotenpunkts aus Treppen, Fluren, Liften, Schächten, Gleisen und Türen durschauen zu wollen. Ich folge einfach nur noch stoisch den Schildern. Vermutlich hängt es tatsächlich mit meinem lausigen Orientierungs- und plastischen Vorstellungsvermögen zusammen, aber die HB-Struktur wird für mich wohl immer ein Geheimnis bleiben.

Die Wehrpflicht

Wenn ich den patriotischen Schweizer nicht schon lange vergrault habe, dann ist spätestens hier Schicht im Schacht. Vor mir sehe ich schon die wütenden Leserkommentare im Duktus «Na dann zurück nach Italien, wenn es dir hier nicht passt». Aber was ich weiterhin nicht verstehen kann oder will, ist die hier herrschende Wehrpflicht. Für mich ist das alles andere als zeitgemäss, alles andere als eines neutralen und liberalen Staates würdig. Eines ist fix: Sollte ich hier in der Schweiz eine Familie gründen wollen, die Überlegung, dass mein Sohn irgendwann mal ein Gewehr in die Hand nehmen soll und Ideen wie «Ehre» und «Feind» eingetrichtert bekommt, wäre ein Grund das Land wieder zu verlassen.

Älplermagronen

Mein absoluter Erzfeind seitdem ich in der Schweiz bin: Die Älplermagronen. Auch hier spielen sicherlich meine italienischen Wurzeln mit, die mich zum Pasta-Faschisten werden lassen, aber bei Älplermagronen rebelliert jede Faser meines Körpers. Wenn es schon nicht schlimm genug ist, Teigwaren mit Kartoffeln, Zwiebeln und Speck zu mischen, dann ist der Apfelmus auf jeden Fall der Todesstoss für mich. Sorry, liebe Eidgenossen. Da steig ich aus. Da gibt’s von mir kein «en guete».

veröffentlicht: 3. August 2022 08:22
aktualisiert: 9. August 2022 12:45
Quelle: ZüriToday

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