Obergericht

Der Fall Wilson A.: Eskalierte Polizeikontrolle beschäftigt Zürcher Justiz

15.02.2024, 06:24 Uhr
· Online seit 15.02.2024, 05:41 Uhr
Am Donnerstag behandelt das Obergericht Zürich den Fall Wilson A. Dieser beschäftigt die Justiz seit 15 Jahren. Es geht um mutmasslichen Rassismus, Racial Profiling und Polizeigewalt.
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Der Platz vor dem Bahnhof Wiedikon wurde am vergangenen Samstag kurzerhand zum «Black Lives Matter-Platz», wie ein Bild auf Instagram zeigt. «Gemeinsam gegen Rassismus», «Fight the Police» und «Touch one – Touch all». Diesen Parolen begegneten Zürcherinnen und Zürcher auf Bannern vor dem Bahnhof im Kreis 3. Hinter den Plakaten: Einige Dutzend Personen, die für «eine Welt ohne Rassismus und Unterdrückung», plädierten. Warum diese Aktion?

«Solidarität mit Wilson A.!», fordert das anti-rassistische Kollektiv «justice4nzoy» an der bewilligten Demonstration, an der auch die Autonome Schule Zürich, die Zentralwäscherei und die Organisierte Autonomie Zürich teilnahmen.

Wer ist dieser Wilson A. und warum fordern die linken Kollektive Solidarität mit ihm?

Vorwurf: Rassistisch motivierte Polizeikontrolle

Auslöser der Demo ist eine Verhandlung am Zürcher Obergericht am Donnerstag, 15. Februar. Um 10 Uhr behandelt das Gericht das Geschäft mit der Nummer SB180444-O. Sein Inhalt: «Gefährdung des Lebens etc.: Dem beschuldigten Polizeibeamten wird vorgeworfen, eine Person nur aus rassistischen Gründen kontrolliert und diese anlässlich der Verhaftung ohne jeden Anlass verprügelt und verletzt zu haben.»

Die «Person» aus der Anklageschrift ist Wilson A. Der beschriebene Vorfall: Eine Polizeikontrolle im Jahr 2009. Wer verstehen will, worüber am Donnerstag verhandelt wird, muss 15 Jahre zurückgehen. Zur besagten Polizeikontrolle. An den Bahnhof Wiedikon. Genauer: in ein Tram der Linie 9.

Polizeikontrolle eskaliert am Bahnhof Wiedikon

Es ist der 19. Oktober 2009, ein Sonntag, kurz nach Mitternacht. Wilson A. und ein Freund sitzen im 9er-Tram. Die beiden sind auf dem Nachhauseweg von einem Salsa-Konzert im Kaufleuten.

Bei der Haltestelle Werd steigt eine Patrouille der Stadtpolizei Zürich dazu, es sind eine Polizistin und ein Polizist. Der Gruppenleiter der Patrouille meinte zuvor, eine polizeilich gesuchte Person im Tram entdeckt zu haben – laut der Meldung ein Nordafrikaner. Der Beamte und die Beamtin entdecken die Männer und fordern sie auf, die Ausweise zu zeigen. Die zwei Freunde weigern sich, Wilson A. fragt nach dem Grund der Kontrolle. Seine Vermutung: Die Polizisten kontrollieren sie, weil sie schwarz sind.

Was danach passiert – darüber gehen die Darstellungen auseinander. Klar ist: Beim Bahnhof Wiedikon eskaliert die Situation. Der Polizist und die Polizistin fordern Wilson A. und seinen Freund auf, an der Haltestelle auszusteigen.

Gewaltsame Kontrolle war für Wilson A. lebensgefährlich

Laut Wilson A. gehen die Polizisten ohne Grund auf ihn los, schlagen ihn mit Schlagstöcken und attackieren ihn mit Pfefferspray. Nach Ansicht der mittlerweile zwei Polizisten und der Polizistin verhält sich der kräftig gebaute Wilson A. aggressiv, weshalb sie mit angemessener Gewalt reagieren. Sicher ist: Wilson ist danach verletzt. Ein Lendenwirbel ist gebrochen, der Meniskus gerissen und ein Oberschenkelmuskel gezerrt.

Der damals 36-jährige Wilson A. trägt ausserdem einen Herzschrittmacher, er wurde ihm erst kürzlich eingesetzt. Der Polizeieinsatz: Potenziell lebensgefährlich für den geborenen Nigerianer, wie ein Gutachten einer ärztlichen Fachperson später feststellen wird.

Fall Wilson A. kommt 2018 vor das Bezirksgericht Zürich 

Wilson A. und sein Anwalt Bruno Steiner erheben Anklage. 2018 – neun Jahre später – findet der Prozess am Bezirksgericht Zürich statt. Den Beamten und der Beamtin wird Gefährdung des Lebens und Amtsmissbrauch vorgeworfen.

Gemäss Anklageschrift soll einer der Beamten gesagt haben: «Scheiss Afrikaner, geh zurück nach Afrika». Wilson soll den Beamten und der Beamtin ausserdem mehrfach mitgeteilt haben, dass er herzkrank sei. Diese hätten es ignoriert. Anwalt Bruno Steiner spricht von einer «Gewaltorgie». Was Wilson A. widerfahren sei, sei kein Einzelfall. Schwarze Menschen stünden unter «Generalverdacht».

Die Polizisten widersprechen, dass sie sich rassistisch geäussert haben. Ausserdem geben sie zu Protokoll, dass sie nichts von Wilsons Herzkrankheit gewusst hätten – entgegen Wilsons Behauptung, sie mehrmals darauf aufmerksam gemacht zu haben.

Das Bezirksgericht spricht die zwei Beamten und die Beamtin der Stadtpolizei Zürich frei. Wilson A. habe das Geschehene nicht glaubhaft geschildert, im Gegensatz zu den Polizistinnen, so die Erklärung. Diese hätten einfach ihren Job gemacht. Es habe sich nicht um Racial Profiling gehandelt.

Allianz gegen Racial Profiling fordert #justice4wilson

Wilsons Anwalt Bruno Steiner, der inzwischen verstorben ist, sprach von «eventualvorsätzlicher versuchter Tötung» und zog den Fall weiter ans Obergericht. Nach sechs Jahren findet der Prozess nun am Donnerstag in zweiter Instanz statt. Zuvor waren mehrere Ausstandsbegehren gegen den zuständigen Oberrichter wegen Befangenheit abgelehnt worden.

Der Prozess bewegt die linke und anti-rassistische Szene in Zürich und der Schweiz. Auf den Social-Media-Kanälen der Kollektive wie auf dem Infoportal barrikade.ch rufen die Koordinationsgruppe der Allianz gegen Racial Profiling zu #justice4wilson auf. Die Demo in Wiedikon soll nicht die einzige bleiben. Auch am 15. Februar werden sie am Hirschengraben 15 in Zürich vor Ort sein.

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Stadt Zürich geht gegen Rassismus vor

«Wir wollen zeigen, dass wir da sind und hinschauen», heisst es auf dem Infoportal. «Wir wollen strukturellen Rassismus und die institutionellen Rassismen von Polizei und Justiz erklären und aufzeigen, dass es sich nicht um ein Einzelfallproblem handelt.»

Was dabei rauskommt, wird sich zeigen. «Eine Verjährung der Gewaltvorwürfe gegen die beteiligten Polizist*innen ist wahrscheinlich», schreibt die Allianz gegen Racial Profiling auf ihrer Website. In diesem Fall werde die Alianz den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte prüfen.

veröffentlicht: 15. Februar 2024 05:41
aktualisiert: 15. Februar 2024 06:24
Quelle: ZüriToday

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