Geschätzte 250'000 bis 300'000 Menschen sind in der Schweiz laut Zahlen des Bundesamt für Gesundheit, BAG, alkoholabhängig. Diese Sucht belastet aber nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihr Umfeld. Laut BAG hat etwa jede dritte Person in der Schweiz mindestens eine Person mit Alkoholproblemen in ihrem Umfeld.
Diesen Angehörigen hilft und unterstützt die Anlaufstelle Angehörige Sucht Zürich, kurz Ada. Hier steigt die Nachfrage: 2022 wurden 1608 Beratungen durchgeführt, 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Interview mit ZüriToday erzählt Präsident Erwin Sommer, welche Substanzen besonders gefährlich sind und was er Betroffenen rät.
ZüriToday: Seit 40 Jahren gibt es die Ada Zürich. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Erwin Sommer: In der Gründungszeit der Ada Zürich war das Thema Platzspitz in aller Munde. Damals meldeten sich viele Eltern von grösstenteils jugendlichen Heroinabhängigen. Sie fühlten sich damals sehr alleingelassen. Heute ist Alkohol das grösste Thema.
War denn Alkohol vor 40 Jahren noch kein Problem?
Damals hat man über Alkoholsucht noch nicht so oft geredet, weil Heroin stark im Fokus war. Alkohol war und bleibt aber die Volksdroge Nummer 1. Er ist gesellschaftlich breiter akzeptiert als Heroin. Der Alkohol zerstört Beziehungen, und das auf gravierende Art und Weise.
Sind wir heute sensibilisierter auf die Gefahren von Alkohol?
Ja, davon zeugt zum Beispiel auch die Einführung der 0,5-Promille-Grenze im Strassenverkehr.
Wie stellt sich die Situation heute dar? Was ist auffällig?
Wir beobachten, dass vermehrt junge Menschen mit dem Ziel in den Ausgang gehen, sich zu betrinken. Das Ziel ist nicht der Genuss, sondern der Rausch. Gewisse Leute sind von Freitag bis Sonntag permanent betrunken, unter der Woche aber wieder «sauber».
Woran liegt das?
Ich glaube, dass das ein gesellschaftliches Problem ist. Auch die Beratungen von Pro Juventute zeigen, dass die jungen Leute wohl auch wegen Corona mit dem Leben nicht mehr zurechtkommen und ihre Welt nicht mehr aushalten. Mit dem Rausch betäuben sie sich, egal wie. Das ist eine Abwärtsspirale, die uns Sorgen macht.
Ist hier nur Alkohol im Spiel?
Unsere Statistik zeigt, dass der Mehrfachkonsum, fachsprachlich Polytox genannt, nach Alkohol am zweithäufigsten ist. Dabei werden unterschiedliche Substanzen gemischt. Das Ziel ist der Rausch.
Die Gruppe, die Sie ansprechen, ist sehr jung. Ist Alkoholismus nur in dieser Altersklasse ein Problem?
Wir beraten Angehörige von Suchterkrankten im Alter von 15 bis 65 Jahren. Besonders oft sind die Süchtigen aber im Alter zwischen 20 und 30. Da melden sich dann oftmals die Lebenspartnerinnen und Lebenspartner bei uns für eine Beratung.
Wie muss man sich eine solche Beratung vorstellen?
Wir hören den Angehörigen zu, analysieren die Situation und versuchen, sie wieder auf die Beine zu stellen. Oft dominiert die suchtkranke Person ihr gesamtes Umfeld und die Situation ist für die Angehörigen sehr belastend. Sie sind unsichtbar gefesselt an die kranke Person. Wir zeigen ihnen auf, wie sie sich wieder aus diesem Teufelskreis befreien können.
Sind das einmalige Beratungen?
Viele rufen einmal an. In den meisten Fällen ist es aber so, dass wir mit einer Person zwischen fünf und sieben Beratungen durchführen. Von vielen hören wir danach nie mehr etwas, andere bedanken sich für die Hilfe oder unterstützen uns mit einer Spende.
Gibt es allgemeine Tipps, die Sie den Angehörigen von Suchtkranken geben können?
Das ist wahnsinnig schwierig, weil die Fälle so unterschiedlich sind. Bei gewissen Angehörigen geht es darum, sich abzugrenzen, bei anderen darum, mit der betroffenen Person einen Finanzplan zu machen, wiederum anderen raten wir zu einer Schuldenberatung. Was mir aber wichtig ist: Es ist nie zu früh oder zu spät, um sich bei uns zu melden.
Im Jahr 2021 führten Sie wegen der Pandemie viel mehr telefonische Beratungen durch als in den Vorjahren. Wie hat sich das im letzten Jahr entwickelt?
Anfang Jahr führten wir noch mehr telefonische Beratungen durch, ab dem Frühling überwogen dann wieder die persönlichen Gespräche.
Verteilen sich die Beratungen gleichmässig aufs Jahr oder erleben Sie besonders intensive Momente?
Die Nachfrage ist relativ ausgeglichen, mit einer leichten Zunahme im Januar. Viele trinken über die Festtage viel, manche zu viel. Sie sagen sich im Januar dann: «Das muss ich jetzt angehen.»
Inwiefern unterscheidet sich das Verhalten von Suchterkrankten je nach Substanz?
Das ist schwierig zu sagen. Was wir aber feststellen: Beim Alkohol wird mehr gelogen. Zudem geht es bei Alkoholkranken sehr lange, bis sich etwas ändert. Lange heisst es von Betroffenen: «Es ist ja nicht so schlimm.»
Welchen politischen und gesellschaftlichen Wandel wünschen Sie sich im Umgang mit der Sucht?
Dass man die Sucht und die Süchtigen entkriminalisiert, den Konsum von Opiaten und Cannabis legalisiert und den illegalen Markt so austrocknet. Von der Gesellschaft wünsche ich mehr Akzeptanz gegenüber Menschen, die nicht trinken. Heute werden sie schnell ausgegrenzt.