Alkohol in der Gesellschaft

«Ach komm, nur ein Bier» – ein Nein wird oft nicht akzeptiert

23.03.2022, 07:53 Uhr
· Online seit 23.03.2022, 06:49 Uhr
Anja* (26) trank zwei Jahre lang keinen Alkohol. Die Abstinenz wurde ihr nicht leicht gemacht, wie sie im Interview mit ZüriToday schildert. Zu sehr ist der Konsum des Rauschmittels in unserer Gesellschaft verankert.
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Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind hierzulande bis zu 300'000 Personen alkoholabhängig. Rund jede fünfte Person trinkt Alkohol missbräuchlich. Und doch wird der Konsum dieses Rauschmittels von breiten Teilen der Bevölkerung toleriert oder gar verherrlicht. Wie sehr, hat Anja* persönlich erfahren. Während längerer Zeit war die 26-Jährige abstinent – mit dem Thema Alkohol musste sie sich zwangsläufig trotzdem auseinandersetzen.

Anja, du hast zwei Jahre lang komplett auf Alkohol verzichtet. Was waren deine Beweggründe?

Vor rund zweieinhalb Jahren habe ich gesundheitliche Beschwerden bekommen. Ich merkte schliesslich, dass dabei auch ein Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol bestand. Wenn ich Alkohol trank, nahmen die Schmerzen am nächsten Morgen zu. Da war für mich klar, dass ich fortan darauf verzichten würde, obwohl auch noch andere Faktoren Einfluss auf meine Gesundheit hatten. Und tatsächlich: die Schmerzen liessen nach.

Wie sah dein Alkoholkonsum davor aus?

Ich trank regelmässig Alkohol. Ich war oft und gerne im Ausgang und entsprechend das eine oder andere Mal auch betrunken.

Dann war die Abstinenz für dich anfangs vermutlich gar nicht so einfach.

Um ehrlich zu sein, hatte ich nie sehr grosse Mühe mit meinem Entscheid. Meine Gesundheit hatte für mich absolute Priorität und deshalb war ich motiviert das durchzuziehen. Was mir eher Mühe bereitete war meinen Entscheid ständig rechtfertigen zu müssen.

Inwiefern musstest du das tun?

Erst einmal beschäftigten mich meine gesundheitlichen Beschwerden, die auch eine psychische Belastung waren. So hatte ich natürlich nicht noch grosse Lust drauf, das immer erwähnen zu müssen, wenn ich einen Drink angeboten bekam und gefragt wurde, warum ich diesen ablehne. Und glaub mir, das ist oft passiert. Die Leute fragen sofort, weshalb man auf Alkohol verzichtet. Es scheint, als wären sie erst mit einer plausiblen Antwort zufrieden, ansonsten würden sie nicht locker lassen.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Einmal wurde ich gefragt, ob ich schwanger sei. Vermutlich war das nicht ernst gemeint, aber lustig wars trotzdem nicht. Andere sagten Dinge wie «Ach komm, nur ein Bier» oder «Komm schon, nur zum Anstossen.» Ich finde das absurd, weil man das mit anderen Drogen oder Zigaretten niemals so machen würde. Und weil ich Wurzeln im Nahen Osten habe, wurde des Öfteren auch vermutet, dass die Religion eine Rolle spielt. Dabei bin ich gar nicht religiös.

Das hört sich sehr anstrengend und nervig an...

War es auch. Die Leute, die mich gut kannten, wussten ja von meinen gesundheitlichen Problemen. Da war das dann kein Thema mehr. Aber wenn fremde Menschen eine Erklärung verlangen, finde ich das nicht sehr einfühlsam. In meinem Fall war der Grund ja die Gesundheit. Und das ist etwas Intimes, grundsätzlich geht das niemanden was an. Ich habe dann aber dennoch meistens gesagt, dass ich aus gesundheitlichen Gründen auf Alkohol verzichte. Weil wenn ich nichts gesagt habe, haben sich diese Personen selbst etwas zusammengereimt. Dann wurde ich reduziert auf etwas, das gar nichts mit mir zu tun hatte. Das störte mich.

Warum stellen sich viele Menschen deiner Meinung nach so an?

Wenn dir jemand etwas anbietet, ist das grundsätzlich ja höflich. Sobald aber nachgedoppelt wurde, empfand ich es als aufdringlich und spürte, dass es nicht mehr um Höflichkeit ging. Ich merkte, dass die Menschen in erster Linie nicht allein sein wollten. Sie wollten nicht alleine ihre Hemmschwelle senken. Vielleicht schämten sie sich insgeheim auch, diese Droge zu konsumieren. Sie wollten Party machen, eine gute Zeit mit den Freunden haben, sich integrieren. Und hier in der Schweiz ist man sich halt gewohnt, dass man dafür zu Alkohol greift. Als Stimmungsmacher sozusagen. Ich finde das egoistisch. Mit Höflichkeit hat das nichts zu tun.

Glaubst du, viele Menschen könnten gar nicht mehr ohne Alkohol eine «gute Zeit» haben?

Das ist schwierig zu sagen. Die meisten Menschen könnten es wahrscheinlich schon. Doch es ist ein Fakt, dass Alkohol sehr häufig dazu gehört. An Weihnachten, an Apéros, an Geburtstagen... die Liste ist ellenlang. Meine Erfahrungen im Nahen Osten zeigen mir aber, dass es auch völlig anders ginge. Alkohol ist dort überhaupt kein fixer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Wenn ich dort ein Getränk ausschlug, dann war das überhaupt kein Thema. Niemand hat nachgefragt. Und trotzdem herrscht an den Festen dort beste Stimmung.

Konntest du trotzdem coole Abende mit deinen Freunden erleben, ohne selbst zu konsumieren?

Ja, mit meinen Freunden ging das schon. Obwohl ich sagen muss, dass im Verlaufe eines Abends dann doch ein Punkt erreicht war, an dem ich mich ausgeschlossen fühlte. Die anderen waren dann schon aufgeheitert oder gar betrunken. Und ich eben nicht. Und dass eine ganze Gruppe mir zuliebe auf Alkohol verzichten würde – unvorstellbar. Das hätte ich aber auch nie erwartet.

Alkohol ist in unserer Gesellschaft sehr verankert. Besorgt dich das?

Ja, schon. Wir gehen sehr leichtfertig damit um. Es wird glorifiziert, Alkohol taucht auch in den Medien, in Serien oder Filmen auf, und nicht in einem negativen Kontext. Zudem haben viele Leute ein konkretes Bild eines Alkoholikers. Sie stellen sich einen Obdachlosen vor, oder einen Rabenvater, der seine Kinder schlägt. Doch auch Menschen, die einer regulierten Arbeit nachgehen und grundsätzlich mit beiden Füssen im Leben stehen, können Alkoholiker sein.

Glaubst du, viele Menschen sind sich auch gar nicht bewusst, dass sie bereits eine Sucht entwickelt haben?

Die genaue Definition eines Alkoholikers kenne ich nicht. Aber ich würde schon sagen, dass viele sehr regelmässig Alkohol konsumieren. Und dass einige Personen nicht einfach so aufhören könnten, von heute auf morgen. Eine Art von Sucht ist das dann schon, finde ich. Ich denke hierbei auch an Leute in meinem Freundeskreis.

Was müsste denn geschehen, dass das Thema Alkohol kritischer beäugt wird?

Die Gesellschaft muss definitiv sensibler werden und offener über die negativen Aspekte von Alkohol sprechen. Als Kind wird dir gesagt, dass man nicht trinken soll, doch sobald man volljährig ist, bekommt man auf den Geburtstag eine Flasche Wein geschenkt. Das ist doch inkonsequent. Mit 18 erhält man ja auch kein Zigarettenpäckli oder so. Aber bei Alkohol sagt niemand etwas, obwohl es durchaus schädlich ist. Alkohol ist ein Gift, das muss man einfach so sagen. Dass der Staat regulierend eingreift, wäre vermutlich nicht zielführend. Präventionsarbeit und Aufklärung müsste er aber sicher stärker unterstützen. Vor allem in Hinblick auf Süchtige.

Sind diese ein Stück weit auch «Opfer» der Gesellschaft?

Für ein Individuum ist es sicher sehr schwierig, abstinent zu werden oder eine Sucht zu bekämpfen, wenn die Gesellschaft um einen herum nicht mitzieht. Ich glaube, das macht es auch für Kinder von suchtkranken Eltern nicht einfacher. Sie sehen, wie das Verhalten ihrer Eltern ein Stück weit legitimiert wird. Sie fragen sich dann vielleicht, ob ihre familiären Probleme wirklich relevant genug sind, um sich beispielsweise Hilfe zu holen.

Letzte Woche hast du nach über zwei Jahren das erste Mal wieder Alkohol getrunken. Wieso?

Meine gesundheitliche Situation erlaubt mir das mittlerweile wieder, ich verspüre keine Schmerzen mehr. Also habe ich mir gesagt, dass ich es wieder mal ausprobieren will. Und ich muss sagen, dass es ein cooler Abend war. Ich fühlte mich gut, es herrschte gute Stimmung, das Wetter war schön. Aber ich betrachte das Thema Alkohol mittlerweile aus einem völlig anderen Winkel. Mir ist in den letzten zwei Jahren einiges bewusst geworden.

Welche Message möchtest du anderen Menschen, die regelmässig Alkohol trinken, mit auf den Weg geben?

Ich verurteile niemanden, jede Person muss für sich selbst wissen, wie viel Konsum ihr gut tut. Aber wenn jemand abstinent sein will, dann sind dumme Fragen, wie sie mir gestellt wurden, nicht angebracht. Meine Message ist also: Fragt nicht nach, sondern akzeptiert einfach. Punkt. Die Gründe können nämlich ganz unterschiedlich sein, und manchmal sind sie wirklich intim. Da möchte man sich nicht auch noch rechtfertigen müssen. Seid einfühlsam und tolerant. Ich fände es sogar schön, wenn «Alkohol trinken» nicht die Norm ist, sondern eher umgekehrt.

* Name von der Redaktion geändert

veröffentlicht: 23. März 2022 06:49
aktualisiert: 23. März 2022 07:53
Quelle: ZüriToday

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