Machtwechsel

Putsch, Proteste und Evakuierungsversuche: Das passiert gerade in Niger

03.08.2023, 06:48 Uhr
· Online seit 03.08.2023, 06:46 Uhr
Der gewählte Präsident wurde gestürzt, der General des Militärs ist an der Macht und tausende Menschen unterstützen den Putsch. In Niger herrscht Chaos – mit weitreichenden Konsequenzen. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu.

Quelle: Reuters / CH Media Video Unit / Katja Jeggli

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Was ist in Niger passiert?

Am Mittwoch vor einer Woche hatten Offiziere in Niger den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum für entmachtet erklärt. Die Putschisten sind Teil von General Abdourahamane «Omar» Tchianis Eliteeinheit, der Präsidentengarde.

Wer hat die Macht nach dem Putsch übernommen?

Tchiani ernannte sich am Freitag selbst zum neuen Machthaber. Kurz nach seiner Machtübernahme als De-facto-Präsident setzten die Putschisten die Verfassung des westafrikanischen Landes ausser Kraft und lösten alle verfassungsmässigen Institutionen auf.

Die aktuelle Verfassung des Landes war im Dezember 2010 angenommen worden. Wenige Monate zuvor war der damalige Präsident Mamadou Tandja ebenfalls von Putschisten gestürzt worden. Seit seiner Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1960 hat Niger schon vier Putsche und einige Versuche der Machtübernahme erlebt.

Was war die Ursache für den Putsch?

Während der pro-westliche, reformorientierte Bazoum ein wichtiger Verbündeter der EU und den USA im Kampf gegen den Terrorismus in der Sahelzone war, stand die Bevölkerung des Nigers ihm kritisch gegenüber. Die schlechte Sicherheitslage, hohe Arbeitslosigkeit und Hungerkrisen sorgten für viel Unmut seit Bazoums Amtsantritt im April 2021. Mehr als 40 Prozent der 26 Millionen Nigrer leben in extremer Armut, während der Regierung tiefgreifende Korruption und Selbstbereicherung vorgeworfen wird.

De-facto-Präsident Tchiani begründete den Putsch mit der zunehmenden Bedrohung durch den Terrorismus sowie die schlechte sozioökonomische Regierungsführung. Dass der Niger nicht mit den Machthabern im benachbarten Mali und Burkina Faso zusammengearbeitet habe, sei ebenfalls ein Fehler gewesen, gab er zu verstehen.

Der Coup sei im Namen eines «Nationalen Rats für den Schutz des Vaterlandes» (CNSP) geschehen, sagte Militär-Oberst Amadou Abdramane laut dem «Tages-Anzeiger». Ob die Putschisten im Namen der ganzen Bevölkerung sprechen, ist unklar.

Journalistin Naveena Kottoor erklärt gegenüber SRF, dass das Geld, welches das Militär aus europäischen Ländern und den USA erhält, zu einer Art Verteilungskampf geführt habe. Vieles ging an Spezialkräfte der Terrorismusbekämpfung, was ein Teil der Armee unglücklich stimmte. Ein grosser Teil habe sich mehr Geld, mehr Ausrüstung und eine Aufwertung der ausländischen Finanzierung erhofft.

Welche Konsequenzen hat der Putsch?

Unter dem politischen Chaos dürfte vor allem die Zivilbevölkerung leiden. Seit der Luftraum im Niger geschlossen wurde, können Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen (UNO) die dringend notwendige humanitäre Hilfe nicht mehr leisten. Das Land belegte auf dem Index der menschlichen Entwicklung der UNO zuletzt Platz 189 von 191. Mehr als 40 Prozent der Menschen leben in extremer Armut. Derzeit ist der Luftraum für fünf Nachbarländer wieder geöffnet.

Es gibt die Sorge, dass der Niger unter einer Militärregierung näher an Russland rücken könnte. Auch die Nachbarländer Mali und Burkina Faso hatten sich in Richtung Russland orientiert und unter anderem Partnerschaften mit der russischen Wagner-Gruppe gesucht. Der Chef der Privatarmee, Jewgeni Prigoschin, bezeichnete den Putsch im Niger als gewöhnlichen Kampf der Menschen gegen die früheren Kolonialherren, die ihnen ihren Lebensstil aufzwingen wollten.

Wie reagieren die Leute im Land?

Viele Nigrer stellen sich hinter die Putschisten. Am Sonntag gingen in der Hauptstadt Niamey tausende Menschen auf die Strassen, um ihre Unterstützung für die neuen Militärmachthaber kundzutun. Zahlreiche Menschen schwenkten dabei auch russische Fahnen.

Ein Protest vor der französischen Botschaft in Niamey soll in Gewalt ausgebrochen sein. Die Demonstrationen gelten als Warnung an die ehemalige Kolonialmacht Frankreich und die westafrikanische Staatengemeinschaft Ecowas, die den Putsch der Militärs scharf kritisiert hatten.

Was bedeutet der aktuelle Putsch für die Nachbarländer?

Die Militärregierungen der beiden Nachbarländer Burkina Faso und Mali haben die westafrikanische Staatengemeinschaft Ecowas vor einem Eingreifen gewarnt. Jede militärische Intervention gegen Niger komme einer Kriegserklärung gegen Burkina Faso und Mali gleich.

Ein militärisches Eingreifen könnte katastrophale Folgen haben, die die gesamte Region destabilisieren könnten. Burkina Faso und Mali sind selbst Ecowas-Mitglieder, seit Militärputschen in ihren Ländern jedoch aktuell suspendiert.

Wie reagiert die EU?

Die EU erkennt die aus dem Putsch im Niger hervorgegangenen Behörden nicht an. Sie hat sich hinter die Drohungen der westafrikanischen Staatengemeinschaft Ecowas gegen die neuen Militärmachthaber gestellt. «Die Europäische Union unterstützt alle Massnahmen, die die Ecowas als Reaktion auf den Staatsstreich ergriffen hat und wird sie rasch und entschlossen fördern», sagte der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell am Montag.

Die EU kooperiert mit dem Niger seit 2015, vor allem um die kritische Migrationsroute von der nigrischen Wüstenstadt Agadez nach Libyen zu blockieren. Denn der Niger ist eins der wichtigsten Transitländer für afrikanische Migranten, die sich auf den Weg in Richtung Europa machen.

Wie steht es um die internationale Kooperation mit Niger?

Das Land war ein wichtiger Partner der USA und der EU im Kampf gegen wachsende Instabilität in der Region. Erst Ende vergangenen Jahres hatte die EU eine Militärmission im Niger beschlossen, um den Terrorismus in der Region zu bekämpfen. Jetzt gefährdet der Putsch im Niger auch die Zusammenarbeit zwischen den Sahel-Ländern und den westlichen Mächten.

Für den Westen war Niger bislang ein wichtiger Anker der Demokratie in der sonst volatilen Sahelzone. Für die dortigen Länder leisteten Truppen westlicher Länder, vor allem aus der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, einen wesentlichen Beitrag im Kampf gegen den islamistischen Terror. Paris hat im Niger und im benachbarten Tschad etwa 2500 Soldaten stationiert.

Was passiert jetzt mit ausländischen Personen im Niger?

Frankreich und Italien haben eine Woche nach dem Militärputsch mit der Evakuierung ihrer und ausländischer Staatsbürger begonnen. Das teilten die französische Aussenministerin Catherine Colonna und ihr italienischer Kollege Antonio Tajani auf X (vormals Twitter) mit.

Laut Colonna wurden mehr als 260 Menschen, darunter zwölf Babys, aus der nigrischen Hauptstadt Niamey evakuiert. Zunächst gab es keine Angaben, ob auch Menschen aus anderen EU-Ländern an Bord der Maschine waren. Frankreich hatte aber zuvor angeboten, auch Menschen aus anderen europäischen Ländern auszufliegen.

Tajani schrieb, der Sonderflug mit italienischen und ausländischen Bürgern aus Niamey sei am Mittwochmorgen mit 87 Menschen in Rom gelandet. 36 Italiener, 21 Amerikaner, vier Bulgaren und zwei Österreicher waren an Bord.

Auch zehn Schweizer Staatsangehörige haben am Mittwochabend den Niger an Bord eines französischen Flugzeugs Richtung Paris verlassen. Dies teilte das Aussendepartement EDA auf Anfrage von Keystone-SDA mit. Rund zwei Dutzend Schweizerinnen und Schweizer sind noch vor Ort.

Was unternehmen die Schweizer Behörden?

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ist mit den französischen Behörden in Kontakt. Ebenfalls steht sie in Verbindung mit Schweizer Staatsangehörigen vor Ort. Gemäss Auslandschweizergesetz muss das EDA natürliche Personen und deren Angehörige im Falle einer Krisensituation informieren und im Rahmen des Möglichen Beistand leisten.

Nachdem die zehn Schweizer Staatsangehörige den Niger mit einem französischen Flugzeug verlassen konnten, dankt das EDA «Frankreich für seine Unterstützung zu Gunsten der Schweizer Staatsangehörigen», schreibt das Departement. Es verfolge die Lageentwicklung im Niger weiterhin eng und bleibe sowohl mit seinen Partnerstaaten als auch mit den verbleibenden rund zwei Dutzend Schweizer Staatsangehörigen vor Ort in Kontakt.

«Die Sicherheitsempfehlungen des EDA sind zu beachten. Der Entscheid, eine Krisenregion zu verlassen, erfolgt freiwillig, auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten der ausreisenden Person», so das Departement. Der Bund könne sich an Such- und Rettungsmassnahmen des Empfangsstaates oder anderer Staaten beteiligen. Betroffene können sich an die EDA-Helpline wenden. (Tel. +41 800 24 7 365)

Mit Material der sda erstellt.

veröffentlicht: 3. August 2023 06:46
aktualisiert: 3. August 2023 06:48
Quelle: Today-Zentralredaktion

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