Bericht aus Kiew

«Putin droht ein Wettlauf mit der Zeit im eigenen Land»

· Online seit 02.03.2022, 15:02 Uhr
Christian Wehrschütz leitet als ORF-Korrespondent das Auslandsbüro des österreichischen Fernsehsenders in Kiew. Im Interview erklärt er, wie es auf den Strassen der ukrainischen Hauptstadt aktuell aussieht. Und weshalb Wladimir Putin unter Druck steht.
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Das Interview mit Christian Wehrschütz führte Redaktor Janne Strebel am Mittwochmorgen.

Herr Wehrschütz, wo befinden Sie sich aktuell – und wie sicher sind Sie dort?

Ich bin in Kiew und gar nicht sicher. Meine Begleitpersonen und ich packen gerade unsere Sachen zusammen. Leider ist gestern der Lift ausgefallen, wir sind im 9. Stock und müssen jetzt alles rauf- und runtertragen. Das ist eine sportliche Übung. Wir hoffen, am Mittag wegfahren zu können.

Wie muss man sich die aktuelle Lage in Kiew vorstellen?

Die Versorgungslage wird immer schwieriger. Zudem hat man Angst, beschossen zu werden. Viele Leute versuchen, die Stadt zu verlassen, auch das ist problematisch. Es fehlt an Treibstoff, die Züge sind überfüllt, andere sitzen in Luftschutzkellern oder in den U-Bahn-Schächten. Das ist die Realität in Kiew. In Mariupol oder Charkiw ist es noch schlimmer, wo die Gefechte stattfinden. Da ist es erst recht eine Katastrophe.

Wie muss man sich die Vorbereitung auf den russischen Konvoi, der in Richtung Kiew unterwegs ist, vorstellen?

Davon merkt man in der Innenstadt natürlich nichts. Die Vorbereitung darauf findet eher in den Aussenbezirken statt. Man sieht natürlich, dass viele Barrikaden aufgestellt und stärkere Kontrollen durchgeführt werden. Damit hat es sich aber auch schon in der Innenstadt. Dennoch kriegt man auch die Luftangriffe mit. Man sah gestern den Fernsehturm, der attackiert wurde. Man spürt, dass der Krieg näher rückt.

Wie sehen Kiews Strassen derzeit aus?

In den Strassen hat es keine Leute, obwohl die Ausgangssperre aufgehoben wurde. Aber es hat keine Leute. Die sind alle weg.

Inwiefern findet noch ein Gesellschaftsleben statt?

In der Innenstadt, am Majdan-Platz oder in den grossen Einkaufsstrassen hat man das Gefühl, der dritte Weltkrieg sei zu Ende gegangen. Nur, dass man Gott sei Dank keine Zerstörung sieht. Hin und wieder sieht man ein Auto oder ein paar wenige Menschen. Alle Geschäfte und Läden sind geschlossen.

Was machen die Ukrainerinnen und Ukrainer, die Sie kennen?

Die meisten von ihnen versuchen, aus dem Land oder zumindest aus der Stadt zu kommen. Jeder hat jemand anderes gefragt, ob man vielleicht eine Mitfahrgelegenheit hat, ob man jemanden kennt, mit dem man mitreisen kann. Oder ob jemand weiss, wo man Benzin oder Gas bekommt. Viele Autos werden hier mit Gas betrieben.

Was sind Ihre Pläne?

Wir reisen ab 12.15 Uhr österreichischer Zeit aus und werden uns in eine Stadt rund 60 Kilometer südwestlich oder noch weiter westlich von Kiew absetzen. Es hängt aktuell davon ab, wo wir unser Hotel haben werden. Wir werden aber natürlich in der Ukraine bleiben und von hier aus weiterarbeiten.

Der russische Angriff, so der allgemeine Ton, scheint ins Stocken geraten zu sein. Ist der ukrainische Widerstand derart gross?

Ich würde sagen, dass die Gegenwehr viel grösser als erwartet ausfällt. Zudem entfalten die Waffen- und Panzerlieferungen (vom Westen an die ukrainische Armee, d. Red.) ihre Wirkung. Und nicht zuletzt hat Russland den ukrainischen Willen zur Gegenwehr unterschätzt.

Der 64 Kilometer lange russische Konvoi in Richtung Kiew ist also auch ins Stocken geraten?

Ja. Die ganze Angriffsoperation auf Kiew ist ins Stocken geraten. Kiew bleibt aber das grosse Ziel Russlands. Weil die Hauptstadt das grösste Symbol der Ukraine ist und Putin dieses einnehmen will. Wenn ihm das in den nächsten Tagen nicht gelingt, dann werden irgendwann auch viele Russen, trotz der staatlichen Propaganda durch die Medien, beginnen, Fragen zu stellen. Wenn die realisieren, dass es bereits viele russische Kriegsgefangene und Gefallene gibt, dann wird das für Putin auch im eigenen Land ein Wettlauf mit der Zeit.

veröffentlicht: 2. März 2022 15:02
aktualisiert: 2. März 2022 15:02
Quelle: ZüriToday

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