Aussergewöhnliche Massnahme

Ausgangssperre und Leinenpflicht für Katzen in Deutschland – weil sie Vögel jagen

18.06.2022, 07:24 Uhr
· Online seit 17.06.2022, 17:18 Uhr
Eine Ortschaft in Baden-Württemberg greift rigoros durch: Von Mitte Mai bis Ende August dürfen Hauskatzen nicht mehr nach draussen – zum Schutz seltener Vögel. In der Schweiz gibt es bisher keinen vergleichbaren Fall. Eine Katzenexpertin und ein Vogelkenner beurteilen die radikale Massnahme.
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Seit der Coronapandemie und den landesweiten Shutdown-Geschichten wissen wir nur zu gut, wie es ist, wenn man sich permanent in den eigenen vier Wänden aufhalten muss. Über längere Zeit für die wenigsten eine angenehme Konstellation. Nur wenige Monate nach der Aufhebung der meisten Corona-Massnahmen für Menschen, müssen Hauskatzen im deutschen Walldorf nun dasselbe erdulden.

Mit der Katze Gassi gehen ist erlaubt

Die Kleinstadt im Kreis Rhein-Neckar mit gut 15'000 Einwohnern greift nämlich rigoros durch: Zum Schutz der akut vom Aussterben bedrohten Haubenlerche, eines Singvogels aus der Gattung der Sperlinge, dürfen Stubentiger von Mitte April bis Ende August nicht mehr nach draussen. Einzige Ausnahme: Sind sie an der Leine, darf man mit Katze oder Kater Gassi gehen.

Im Gebiet rund um Walldorf gibt es nur noch drei Haubenlerchen-Paare, schreibt die «NZZ» und bezieht sich dabei auf die Verfügung des Kreises Rhein-Neckar. Gesamthaft leben noch zwischen 1700 bis 2700 Brutpaare in Deutschland.

Die Meinungen zur Ausgangssperre für Hauskatzen könnten dabei nicht weiter auseinandergehen als im vorliegenden Fall. Während diese einerseits als verhältnismässig und aufgrund des sehr geringen Vogelbestands als sinnvoll beurteilt wird, laufen Katzenfreundinnen und -freunde Sturm gegen den Erlass.

Kein Bestrebungen in der Schweiz

Wäre eine solch rigorose Massnahme in der Schweiz auch denkbar? Stefan Bachmann, Mediensprecher der Vogelschutzorganisation BirdLife Schweiz, will zum geschilderten Beispiel in Deutschland keine Stellung nehmen, da er den Fall nicht im Detail kennt. Er sagt aber: «Wenn es um den Schutz einer stark gefährdeten Art geht, müssen alle möglichen Ursachen angeschaut und minimiert werden.»

Problematisch seien vor allem diejenigen Katzen, die in Wäldern und Naturschutzgebieten umherstreifen, da sie dort auch gefährdete Arten dezimieren könnten. Konkrete Überlegungen, ein temporäres Ausgehverbot für Katzen zu fordern, habe es aber bisher seitens BirdLife Schweiz nie gegeben, so Bachmann.

Solche Bestrebungen sind auch Manuela Gutermann, Präsidentin des Vereins Katzenfreunde Schweiz, nicht bekannt. Sollte dies in Zukunft zum Thema werden, könnte Gutermann die radikale Massnahme nur bedingt nachvollziehen. «Ich würde einen Kompromiss befürworten. Beispielsweise, dass man Katzen frühmorgens, wenn die Vögel auf Futtersuche sind oder während die Jungvögel fliegen lernen, nicht rauslässt.»

«Gewisse Katzen lassen sich nicht einsperren»

Klar ist für Gutermann aber, dass man als Katzenhalter durchaus eine gewisse Verantwortung trägt und den Vierbeiner nicht einfach machen lassen kann. «Ich begrüsse es auch, wenn die Katzenhalter darauf achten, ihre Tiere während der Brutzeit der Vögel nicht einfach zu jeder Uhrzeit gedankenlos nach draussen zu lassen.»

Mehr als drei Monate, wie im deutschen Fall, scheinen Gutermann aber doch sehr lang. «Es gibt natürlich Katzen, welche sich fast nicht einsperren lassen und sonst aus Protest anfangen würden, in der Wohnung Schäden anzurichten.»

Bund: 30 Millionen tote Vögel jedes Jahr wegen Katzen

Klar ist indes: Auch in der Schweiz sind Katzen auf Raubzug ein Problem für den Vogelbestand. Laut den Statistiken des Verbandes für Heimtiernahrung (VHN) besitzt im Jahr 2022 fast jeder dritte Schweizer Haushalt eine Katze. In absoluten Zahlen: Um die 1'850'000 Stubentiger sind in der Schweiz unterwegs.

Und die Fellnasen machen ordentlich Beute: In der Antwort auf eine Anfrage des grünliberalen Waadtländer Nationalrats François Pointet schätzt der Bundesrat die Gesamtzahl der Katzen zum Opfer gefallenen Vögel auf 30 Millionen Tiere jährlich. Dabei dürfte auch das eine oder andere geschützte Exemplar dabei sein. Stefan Bachmann von BirdLife betont jedoch, dass ein Grossteil der erbeuteten Vögel ungefährdete Arten betrifft.

Einigkeit: Der Mensch spielt eine grössere Rolle beim Vogelsterben

Bei der Diskussion rund um die Verhältnismässigkeit der Katzen-Ausgangssperre und das Wohl der beiden Tierarten, geht indes vergessen, dass es noch weitere (und gewichtigere) Gründe für die Bedrohung der Vögel in Europa gibt. Und dort sind sich die Katzenkennerin und der Vogelexperte vollkommen einig. Stefan Bachmann: «Ein grösseres Problem als die Gefährdung durch Katzen ist für Vögel der Nahrungs- und Habitatsverlust.»

Das heisst: Aufgrund der breitflächigen Verwendung von Pestiziden sterben viele Insekten, welche sonst als Vogelnahrung dienen würden. Und durch die Überbauung naturnaher Flächen wie Äcker oder Wiesen schwindet der Lebensraum von Insekten und Vögeln gleichermassen. Manuela Gutermann betont ebenfalls: «Für uns ist der Hinweis wichtig, dass die von uns Menschen geschaffenen Umstände auch eine grosse Rolle spielen, wenn es um Gefahren für Vögel geht.»

In der Schweiz ist der Haubenlerche so oder so nicht mehr zu helfen

Als Beispiel nennt sie ebenfalls die Vernichtung des Lebensraums der Vögel. «Man muss diese Einflüsse unbedingt auch miteinbeziehen. Es ist nicht richtig, wenn man Katzen quasi als Vogelmörder Nummer eins hinstellt.»

Ob die Ausgangssperre für Stubentiger im deutschen Walldorf hilft, die Haubenlerche vor dem Aussterben zu bewahren, ist noch nicht klar. In der Schweiz hingegen käme die Massnahme für diese Vogelart ohnehin zu spät: Sie gilt bereits seit 1989 als ausgestorben.

veröffentlicht: 17. Juni 2022 17:18
aktualisiert: 18. Juni 2022 07:24
Quelle: FM1Today

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