Überraschende «Tatort»-Folge

Wenn der letzte Schuss die Falsche trifft – oder eben nicht

22.02.2022, 07:42 Uhr
· Online seit 21.02.2022, 18:46 Uhr
In der jüngsten «Tatort»-Folge «Liebe mich!» stirbt Hauptkommissarin Martina Bönisch völlig unerwartet – und hinterlässt eine schockierte Fangemeinschaft. Filmkritiker Alex Oberholzer über den Abgang einer der beliebtesten «Tatort»-Kommissarinnen und darüber, was der «Tatort» mit Fussball gemein hat.
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Dass der letzte Schuss tödlich endet, ist nichts Aussergewöhnliches in einer «Tatort»-Folge. Meist ist es die Mörderin oder der Bösewicht, die oder den er trifft. Plausibel, erwartbar und vom Publikum in der Regel schnell wieder vergessen.

«Du bleibst hier… versprochen!?»

Anders in der gestrigen «Tatort»-Folge «Liebe mich!»: Der Fall war bereits gelöst, jeden Moment erwartete man den Abspann, und dann fällt völlig unerwartet ein weiterer Schuss. Der Todesschuss trifft Hauptkommissarin Martina Bönisch mitten in die Magengrube. Ausgerechnet Bönisch. Jene Kommissarin – gespielt von Anna Schudt – die zehn Jahre lang fester Bestandteil vom Dortmunder «Tatort» war und gemeinsam mit Kommissar Faber insgesamt 22 Fälle gelöst hat. Die Kommissarin, die von Anfang an als selbstbestimmte Frau eingeführt und vom Publikum für ihre direkte und unkonventionelle Art geliebt wurde. Sie stirbt in den Armen Fabers. Ihre letzten Worte: «Du bleibst hier… versprochen!?»

Für die «Tatort»-Fancommunity ein trauriger Moment. Nicht zuletzt, weil bis zum Schluss der Folge nicht zu ahnen war, dass dies der letzte Fall Bönischs sein wird. Dass Fernseh-Kommissare und -Kommissarinnen mit einem dramatischen Tod von der Leinwand verschwinden, ist nicht aussergewöhnlich. Aussergewöhnlich aber ist, dass im Vorfeld absolut nichts vom Tod der Kommissarin durchgesickert ist.

Alex Oberholzer hat mehr als 30 Jahre lang als Filmkritiker für Radio24 gearbeitet und ist selbst passionierter «Tatort»-Zuschauer. Inhaltlich sei «Liebe mich!» zwar etwas überladen, die jüngste Folge lohne sich aber trotzdem, findet der Filmkritiker.

Herr Oberholzer, nach zehn Jahren verschwindet Martina Bönisch, eine der beliebtesten Tatort-Kommissarinnen, von der Leinwand. War ihr die letzte Folge «Liebe mich!» würdig?

Ja. Dramaturgisch war der Tatort hoch raffiniert aufgebaut: Der Fall beginnt sanft, steigert sich, wird komplexer und verstrickter und gipfelt in der dramatischen Schlussszene, dem Tod von Martina Bönisch. Besonders fasziniert hat mich der Spannungsbogen zwischen dem Protagonistenpaar Faber und Bönisch: Zwei Kommissare, die sich lange nicht leiden können, nähern sich einander langsam an. In der letzten Folge dann passiert, worauf das Publikum lange gewartet hat: Faber und Bönisch küssen sich, verbringen eine – die einzige – Nacht miteinander. Es ist auch die Folge, in der sich die beiden zum ersten Mal duzen – nach zehn Jahren. Etwas überflüssig hingegen fand ich die vielen Nebengeschichten.

Aussergewöhnlich ist auch, dass im Voraus absolut nichts vom Tod Bönischs durchgesickert ist.

Ganz so stimmt das nicht. Anna Schudt hat in den letzten Jahren in mehreren Interviews gesagt, dass sie nicht länger als zehn Jahre beim Tatort bleiben werde. Aber im Vorfeld der Sendung ist medial wirklich nichts durchgesickert, weshalb der Schock umso grösser war. Nicht zuletzt, weil Schudt aka Bönisch so beliebt war und einen spannenden Kontrast zum griesgrämigen und zynischen Faber repräsentierte.

Der «Tatort» flimmert seit über 50 Jahren in knapp zehn Millionen Wohnzimmern, Sonntag für Sonntag. Wo liegt die Faszination «Tatort»?

Der «Tatort» ist die älteste Krimiserie im deutschsprachigen Fernsehen. «Tatort» ist Kult, das Publikum treu. Und das, obwohl die Geschichten manchmal grottenschlecht oder überladen mit sozialen oder politischen Problemfeldern sind. Dann gibt es aber eben auch Highlights, welche die Fans jeden Sonntag aufs Neue vor den Fernseher ziehen. Ich glaube, das ist ein ähnliches Phänomen wie beim Fussball: Entweder man liebt GC oder man liebt den FCZ, aber man kommt ein Leben lang nicht mehr von seinem Verein weg.

Abschliessend nochmal eine Frage zum Dortmunder «Tatort»: Nach dem Tod Bönischs wird dieser nicht mehr sein wie zuvor. Viele fragen sich nun: Wie weiter? 

Der Sender gab bekannt, dass vorläufig kein Ersatz geplant, Bönisch unersetzbar sei. Ich denke aber, dass das eine Frage der Zeit ist. Faber muss jetzt etwas durch den Schmerz gehen – das wird man in den nächsten Folgen sicherlich spüren. Danach braucht er aber wieder einen emotionalen Gegenpol. Zu viel «faberschen» Zynismus erträgt niemand am Sonntagabend.

veröffentlicht: 21. Februar 2022 18:46
aktualisiert: 22. Februar 2022 07:42
Quelle: ArgoviaToday

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