Liebe

Offene Beziehungen werden immer salonfähiger – Fluch(t) oder Segen?

18.11.2023, 15:29 Uhr
· Online seit 16.11.2023, 17:32 Uhr
Wenn die Beziehung nach einigen Jahren einrostet und die Luft im Bett raus ist, sehen sich Leute offenbar schnell nach Alternativen um. Der Ruf nach einer offenen Beziehung wird laut – das zumindest behauptet eine Dating-Plattform. Eine Beziehungsexpertin klärt auf.
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Eine Liebe des Lebens haben und mit dieser Person alt und schrumplig werden. Das ist noch immer die Idealvorstellung vieler Menschen. Dass immer mehr Leute den Glauben an die ewige, bedingungslose Liebe verlieren, legen Zahlen der «Dating-Website für Vergebene» Ashley Madison nahe. Gemäss einer Umfrage bei ihren Nutzern wünschen sich zwei Drittel der monogamen Befragten eine offene Beziehung.

Wir haben mit Martina Rissi, einer Beziehungsexpertin, über das Thema offene Beziehungen gesprochen.

Nehmen nicht-monogame Beziehungen zu?

Martina Rissi: Wenn's schwierig wird in der Beziehung, suchen Paare Lösungen und Alternativen. Die Idee, die Beziehung zu öffnen, wird oft als erste und viel häufiger an- und ausgesprochen als früher. Es wird auch zu Recht immer vermehrt über andere Beziehungsmodelle diskutiert.

Wieso zu Recht?

Heutzutage werden wir viel älter als früher. Das Modell «Bis der Tod uns scheidet» scheint nicht mehr zu funktionieren. Dafür sprechen ja auch die Scheidungs- und andere Zahlen.

In welchen Beziehungen sind Leute, die mit diesem Anliegen zu dir kommen?

Die grundsätzliche Beschäftigung mit dem Thema beobachte ich ziemlich unabhängig vom Beziehungsstatus. Viele aber sind in sehr verbindlichen Beziehungen im Sinne einer Ehe, gemeinsamen Kindern, Liegenschaften oder geschäftlichen Verbindungen, wo das Beenden deiner Beziehung fern vom emotionalen Anteil noch andere Konsequenzen mit sich bringt.

In welchem Alter wird mehr über offene Beziehungen gesprochen?

Querbeet. In meiner Praxis ist ab 25 Jahren alles dabei.

Laut Ashley Madison haben eher Frauen das Bedürfnis. Woran liegt das?

Die sexuellen Bedürfnisse von Mann und Frau sind weniger verschieden, als man es vielleicht annimmt. Die Gesellschaft hat bis vor kurzem aber höchstens den Männern Offenheit bezüglich Sexualpartnern und sexueller Aufgeschlossenheit zugesprochen. Aus meiner Sicht ist es begrüssenswert, dass Frauen immer mehr die gleichen Möglichkeiten bekommen und auch wollen.

Also wollen nicht zwingend öfters Frauen offene Beziehungen, man sieht es jetzt einfach mehr?

Das glaube ich im Grundsatz schon. Frauen suchen in Beziehungen tendenziell aktiver nach Lösungen – unabhängig von Monogamie oder nicht. Ich glaube aber nicht, dass das jetzt grundsätzlich ein Frauending ist. Frauen haben einfach eher Nachholbedarf.

Wieso möchte man eine offene Beziehung, was ist der Reiz?

Definitiv Aufregung und Abwechslung. Im besten Fall Wiederbelebung der Kernbeziehung.

Inwiefern hilft eine offene Beziehung dabei?

Ich glaube, dass der Mensch schon immer diesen Ausweg gesucht hat, wenn es schwierig geworden ist. Die Sexualität ist ein wichtiger Spiegel der Beziehung. Es wird schon seit Jahrtausenden fremdgegangen. Jedoch meistens heimlich. Selbstverständlich haben das Internet und die damit erhöhten Möglichkeiten das Thema massiv geboostert.

Also animiert uns das Internet zum Fremdgehen?

Wie sagt man so schön, Gelegenheit macht Diebe. Eine Grundveranlagung muss meiner Meinung nach schon vorhanden sein. Ich denke, das ist ein Typ Mensch, den es schon immer gegeben hat. Früher war das ein Tabuthema, allerdings ist es durch das Internet einfach salonfähiger geworden.

Sind Leute, die eine offene Beziehung wollen, beziehungsunfähig?

Ich glaube, dass der ursprüngliche Wunsch, eine innige Beziehung zu führen, die märchenmässig von 20 bis 90 Jahren funktioniert, noch immer in vielen Leuten schlummert. Damit das funktioniert, müssen aber unfassbar viele Faktoren stimmen. Und selbst dann gibt es auf lange Sicht einfach eine reelle Gefahr, dass es nicht für immer hält. Ich finde definitiv nicht, dass wenn man über Alternativen nachdenkt, man beziehungsunfähig ist. Ganz im Gegenteil. Aber: Es gibt doch Menschen, die schlechte Beziehungserfahrungen gemacht haben in ihrem bisherigen Leben. Diese Menschen haben Angst, sich auf etwas einzulassen. Aber auch ihnen würde ich das Label «beziehungsunfähig» darum nicht aufdrücken.

Wem empfiehlst du eine offene Beziehung?

Ich empfehle allen Menschen eine offene Beziehung, die sich unabhängig von ihrem Partner, Druckmomenten oder Angst eine Beziehung zu verlieren, dafür entscheiden. Eine offene Beziehung zu führen, ist eine ganz individuelle Lebenseinstellung. Ich rate davon ab, es zu machen, nur weil es vielleicht ein Trend ist oder man Angst hat, seinen Partner zu verlieren.

Welche Arbeit sollte man in einer Beziehung leisten, bevor man sich an dieses Modell wagt?

Pure Ehrlichkeit ist der Boden jeder Beziehung. Wenn etwas passend gemacht wird, was eigentlich nicht passend ist, geht es in den seltensten Fällen gut. Jeder Mensch sollte sich als Individuum klarmachen, welcher Beziehungstyp einem entspricht. Bevor man mit jemandem zusammenkommt, sollte man unbedingt abgleichen, ob die Vorstellungen einer Beziehung zusammenpassen. Hier belügen sich viele Paare aus meiner Sicht aus Verlustangst selbst. Wenn eine Beziehung geöffnet wird, muss es für beide stimmen und es braucht glasklare Regeln.

Zum Beispiel?

Bei einer offenen Beziehung gibt es unfassbar viel zu beachten, fast mehr als in einer monogamen. Darf ich beim anderen Partner übernachten? Können wir gemeinsam in die Ferien? Wie steht es um den gemeinsam Auftritt in der Öffentlichkeit? Wie um sexuelle Begegnungen im gleichen Bett? Was sagen wir den Kindern und und und.

Ist eine kriselnde Beziehung mit einer solchen Abmachung zu retten?

Wenn das nicht von beiden Seiten gewünscht wird, erachte ich es als wirklich schwierig bis unmöglich. Das Wiederbeleben der gemeinsamen Sexualität kann einen stärkenden Effekt haben. Aber das einfach als Krisenmassnahme zu nehmen, erachte ich als eher schwierig.

Kann man seine Beziehung nicht selber wiederbeleben? Braucht es die Flucht in eine solche Abmachung?

Es gibt definitiv Paare, für die es eine Flucht ist. Es gibt auch solche, die sich wirklich besser trennen sollten. Bei denen ist eine solche Abmachung eher ein kläglicher Versuch. Man kann definitiv an der Sexualität arbeiten und diese auch wiederbeleben. Blöderweise entsteht Anziehung durch Distanz. Deshalb ist die Anfangsphase einer Beziehung auch immer so spannend. Wenn man länger zusammen ist, Kind und Haus hat, entsteht eine, eigentlich schöne, Sicherheit. Das bringt dann halt auch mit, dass es nicht mehr so reizvoll ist.

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veröffentlicht: 16. November 2023 17:32
aktualisiert: 18. November 2023 15:29
Quelle: FM1Today

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