Es ist bezeichnend für den Coup: «Wer ist Timothé Mumenthaler?» lautet die erste Frage, die der Überraschungs-Europameister über 200 m in der Medienrunde zu beantworten hat. Er sagt: «Ich habe einen Hunger nach grossen Events, ich liebe die grossen Chancen, ich habe Ambitionen, ich will die Leute inspirieren.»
Dass der angehende EPFL-Ingenieur im Kopf für Grosstaten bereit ist, bewies er bereits beim Einlauf ins Stadion, bei dem die Athleten einzeln im Lichtkegel präsentiert werden. Mumenthaler warf sich nicht in Pose oder winkte in die Kamera, sondern er imitierte mit der Hand einen Telefonanruf. Mit dieser Geste, so sagt er, habe er sich mental nochmals einen Kick gegeben. «Es war ein ‹business call› an mich selber, der mich daran erinnern sollte, die Arbeit abzuliefern. Life is a business. Sport as a business. Just do it!»
Und nach dem Goldlauf auf der Aussenbahn schrie er in die Kamera «Money Time!» Frei übersetzt: Ich habe geliefert, zückt bitte die Scheckkarte. Im Bauch des Stadio Olimpico zeigt er dann weniger Emotionen, keine Allüren, wirkt gefasst und gesteht: «Gold hatte ich nicht auf der Rechnung. Eine Medaille wollte ich aber schon.»
Mumenthaler, der ein paar Wörter deutsch spricht, betreibt seit seiner Kindheit Leichtathletik. Zum Durchbruch verhalf ihm in den letzten drei Jahren Coach Kevin Widmer, einst Schweizer Rekordhalter über 200 m. «Ich habe einen natürlichen Laufstil. Kevin zeigt mir Wege, um diesen zu bewahren, obwohl ich im Sprint zur Bestie werde, zum Gepard, der die Gazelle jagt.»
Besser als 1969
Erstmals seit 1969 in Athen standen am Montagabend in Rom zwei Schweizer an einer EM im Final über 200 m. Damals gewann Philippe Clerc auch Gold, Hansruedi Widmer schaffte es nicht aufs Podest. William Reais im Jahr 2024 hingegen schon. In einem Rennen, dass als offen galt, sprintete er zu Bronze. «Ich bin einfach gelaufen. Ich habe abgeschaltet, kann mich an nichts mehr erinnern, habe nur Timothé auf der eins gesehen.»
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Die Medaille entschädigt Reais für harte Jahre. Der Churer, U23-Europameister im Jahr 2021 und Olympia-Teilnehmer von Tokio, beklagte vor zweieinhalb Jahren einen Sehnenriss im Fussgewölbe. Nun ist er wieder zurück. Er trainiert in Bern mit den Kambundji-Schwestern. Mujinga Kambundji, die eine Stunde vor Reais und Mumenthaler in den Halbfinals über 200 mit der zweitbesten Zeit («Jetzt hat es doch noch klick gemacht») verblüffte, dürfte am Dienstagabend als dritte dieser Trainingsgruppe aufs EM-Podest von Rom sprinten.
Wenn eine Medaille, dann Gold
Als Angelica Moser zum Pressetermin erscheint, machen sich Mumenthaler und Reais in den Startblöcken bereit - alle schauen auf den grossen Screen. Die Europameisterin im Stabhochsprung bejubelt den Europameister im Sprint. «Es ist alles noch unrealistisch, noch nicht angekommen. Aber einfach schön», sagt die 26-Jährige und beschreibt so zugleich ihre Gefühlslage wie auch den TV-Moment.
Der Goldmedaille samt Schweizer Rekord (4,78 m) wurde nach einem harzigen Start in den Wettkampf Tatsache. «Es hat viel Nerven gebraucht, mehr als mir lieb war», sagt Angelica Moser zu den zwei Fehlversuchen bei der Einstiegshöhe. Die Worte von Trainer Adrian Rothenbühler «Du musst vom Panik-Modus in den Chef-Modus wechseln» wusste sie dann umzusetzen.
Die WM-Fünfte 2023 und EM-Vierte 2022 wollte den Weckruf aber nicht dramatisieren: «Zum Stabhochsprung gehört, dass Du ab und zu in den Dritten musst. Ich wusste, dass ich es kann.»
Auf die Züricherin ist am Grossanlass Verlass, auch wenn sie schon ein paar Mal knapp am Podest vorbei flog. Im Rom holte sie ihren achten (!) Titel an internationalen Meisterschaften: Sechsmal im Nachwuchs-Bereich plus ein Sieg an Hallen-EM 2021. Sie hat noch nie Silber oder Bronze gewonnen, dafür acht Mal Gold!
Platz 5 im Medaillenspiegel
Vergangenen Samstag erlebte Swiss Athletics mit vier Medaillen (Ehammer, Lobalu, Joseph, Ditaji Kambundji) bereits einen ersten historischen Leichtathletik-Abend. Nun folgte ein zweiter, der die Schweiz auf Platz 5 im Medaillenspiegel hievt: Zweimal Gold, einmal Silber und viermal Bronze lautet die Zwischenbilanz. Und für Dienstag und Mittwoch hat Swiss Athletics noch mehrere heisse Eisen im Feuer.
(sda)