Aussterbende Zunft

«Die breite Masse versteht die Teppichkunst nicht mehr»

· Online seit 20.03.2022, 15:56 Uhr
Einst gab es Teppich-Sachverständige wie Sand am Meer, mittlerweile muss man gezielt nach ihnen suchen. Schweizweit gibt es nur noch drei Gutachter. Einer von ihnen ist Karl Freitas in Zürich. Im Gespräch mit ZüriToday erzählt er unter anderem, warum gerade in Krisenzeiten mehr Teppiche gekauft werden.
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Teppiche gehören heutzutage zu den klassischen Einrichtungsgegenständen und finden sich in den meisten Wohnungen. Unabhängig von Gehalt und Kontostand. Früher allerdings zeugten Teppiche von grossem Vermögen und einem bedeutenden Kunstverständnis. Teppiche lagen auf dem Boden und hingen an der Wand. Früher bedeutet allerdings nicht unbedingt zu Zeiten der grossen europäischen Königshäuser, sondern «früher» sind die 1950er, 60er und 70er Jahre.

«Das Geld war da und die Menschen haben das ausgegeben, was sie verdienten. Es ist im Vergleich zu heute astronomisch, was da gedreht wurde», erzählt der Teppich-Sachverständige Karl Freitas. Die Nachfrage bestimmte den Markt «und damals gab es praktisch in jeder Wohnung diese grossen, schweren Orientteppiche mit den markanten Mustern.» Die Menschen wollten nach Jahren der Entbehrung unbedingt warme Füsse.

Unterschied zwischen Sammlung und Ansammlung

Der Teppich als Wertanlage in dem Sinne ist allerdings ausgestorben. Früher waren das alles Einzelstücke, die in mühevoller Handarbeit geknüpft wurden. «Obwohl die Teppiche anschliessend in den Wohnungen lagen und gebraucht wurden, kam es schon vor, dass nach zwei Jahren der Teppich für den gleichen Preis verkauft wurde und in wenigen Fällen sogar an Wert gewonnen hat», berichtet Freitas. Je älter der Haushalt war, umso mehr Teppiche gab es in den Wohnungen. Heutzutage seien es meist nur null bis ein Teppich.

«Die Branche ist massiv eingebrochen», reüssiert der Gutachter. Die Bodenheizung habe den Teppich als Wärmequelle abgelöst, das Parkett werde extra abgeschliffen und neu versiegelt, da störe der Teppich nur. Zudem habe sich der Sammelschwerpunkt im Qualitätsbereich verlagert, was sich im gesamten klassischen und antiken Bereich zeigt. Darüber hinaus verschärfe das Internet die Situation: «Da wird schnell mal eine Sammelleidenschaft entfacht, die zwar Bewegung in den Markt bringt, allerdings nie mittel- oder langfristig. Es gibt einen Unterschied zwischen Sammlung und Ansammlung», so Karl Freitas.

Die Kundschaft, die lieber alte Teppiche als Rolexuhren oder Oldtimer sammelt, ist ein sehr kleines Segment. Diese achten noch auf Materialien und Knüpfstrukturen. Das ist aber ein sehr spezieller Markt. Die breite Masse verstehe die alte Teppichkunst nicht mehr, so Freitas. Die moderne Teppichkunst habe eben andere Standards. «Die junge Generation mit Jobs, also ab 30 Jahren, ist nicht mit den alten Teppichmeistern aufgewachsen. Für sie ist eher Bauhaus oder Le Corbusier ein Begriff, die ohnegleichen ein Design geprägt haben. Aber leider heute eher in sogenannten Kollektionen verbraten werden.»

Und diese Kollektionen würden ein grosses Loch in das Konsumverhalten reissen. Entweder sind es klassische Einzelstücke, die schweineteuer sind. Oder am anderen Ende steht die Massenware, welche billig verscherbelt wird und schlecht verarbeitet ist, wie Freitas weiter ausführt. «Ich bezweifle, dass es in den nächsten 20 Jahren innovatives Design geben wird, was uns staunend zurücklässt und den Teppichmarkt wieder ankurbelt.»

Krisenzeiten erhöhen den Wunsch nach Wärme

Dem Verlauf können auch Krisenzeiten nicht entgegenwirken: «Zuerst bestimmt die Angst vor dem Unbekannten das Geschehen und sorgt für Zurückhaltung am Portemonnaie. Ist das aber überwunden, so wird der Wunsch nach Wärme und Gemütlichkeit grösser.» Viele Menschen haben während der Pandemie ihre Einrichtung verändert und der Teppich gehöre mittlerweile zu den gewöhnlichen Einrichtungsobjekten. «Dann wird auch weniger auf den Preis geschaut und das Geld ausgegeben. Mit dem Teppichkauf wird somit aber nur eine reine Befindlichkeit befriedigt.» Die Bevölkerung verstehe diese Art von Kunst nicht mehr und darunter leider auch die Qualität. Wer das Internet nach Teppichen durchstöbert, «wird sicherlich vorab keinen Teppich-Sachverständigen konsultieren», so Freitas und lacht. Das Handwerk wird nicht mehr erkannt und damit verliert auch der Gutachter an Wert.

Knapp 99 Prozent der Teppiche sind nichts wert

In der Schweiz gibt es nur noch drei solcher Teppichgutachter wie Karl Freitas, «die auf seriöser Ebene arbeiten und nicht abzocken wollen.» Jeder Teppich habe ein Alleinstellungsmerkmal. Neben der Herkunft, Zustand, Provenienz ist vor allem die Knüpfstruktur am Rücken und an den Kanten aussagekräftig. Denn jede Region habe ihre eigene Knüpftechnik. «Ein wahrer Experte checkt in wenigen Sekunden, woher ein Teppich kommt und welchen Wert er hat», konstatiert Freitas.

Daher werde er hauptsächlich in Versicherungsfragen hinzugezogen oder wenn Erben wissen wollen, ob der ihnen zugesprochene Teppich wertvoll ist. «In 99 Prozent ist der Teppich nur Dekoration und kaum was wert. Da lohnt es sich auch nicht, ein Gutachten auszustellen.» Freitas sieht die Zunft vor dem Aus: «Das weitläufige Teppichklientel gehört mehr der älteren Generation an und wir Gutachter gleichen uns da alterstechnisch immer mehr an.»

veröffentlicht: 20. März 2022 15:56
aktualisiert: 20. März 2022 15:56
Quelle: ZüriToday

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