«Wäre es für dich okay, wenn ich mir ein Glas Wein bestelle?» Konjunktiv, denn meine Frage ist rein hypothetischer Natur. Es ist 10 Uhr morgens und ich habe absolut keine Lust auf Alkohol. «Heute ist das für mich kein Problem mehr», sagt Marcel. Die Antwort kommt schnell, wirkt gleichzeitig reflektiert.
Marcel ist 64 Jahre alt, dreifacher Vater, pensionierter Bänker, begeisterter Bergsportler – und trockener Alkoholiker. Wir sitzen uns in einem Luzerner Café gegenüber. Auch wenn er mir erzählt, er könne heute gut mit Leuten an einem Tisch sitzen, die trinken, und ich ihm das auch wirklich glaube, entscheide ich mich für einen Ingwertee.
Schleichend in die Sucht
Auch Marcel hatte in meinem Alter – wir sprechen von Mitte 20 – morgens noch keine Lust auf ein Glas Wein. Seine Sucht kam «ungemein schleichend», wie er mir erzählt.
«Als ich mit 26 mit meinen drei Kindern und meiner Frau nach Genf zog, arbeitete ich mit vielen französischen Grenzgängern zusammen», so der pensionierte Bänker. «Mit denen verstand ich mich besonders gut. Es gehörte unter ihnen dazu, nach dem Feierabend ein Apéro zu offerieren. Tradition war auch das Glas Rotwein bereits beim Mittagessen.» In dieser Zeit habe er sich an den täglichen Genuss von Alkohol gewöhnt.
Einige Jahre später wieder zurück in der Deutschschweiz, blieb der Alkohol sein ständiger Begleiter: «Sei es bei Anlässen, Kundengesprächen, aber auch im Privaten, bei Hochzeiten und Geburtstagen. Es gehörte einfach überall immer dazu. Wie selbstverständlich.»
Das volle Weingestell
Wann aber geschah es? Wann wurde aus täglichem Genuss Gift, aus dem einstigen Supplement das Omnipräsente? Einen genauen Zeitpunkt sei schwierig zu nennen. «Als die Kinder ausgeflogen waren, kam man einfach immer mehr in einen Trott: Jeden Abend Wein, jeden Samstag einen Grosseinkauf, um das Weingestell wieder aufzufüllen. Das machte mich glücklich», so der 64-Jährige.
Das volle Weingestell und die damit verbundene Glückseligkeit bringt mich zum Nachdenken. Ist das tatsächlich Sucht? Wo liegt die Grenze zur Liebhaberei? Ich frage nach: «Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber ich war ganz bestimmt kein Weinliebhaber. Es ging nicht um den Wein an sich, um seinen Geschmack. Es sollte mich immer öfter einfach nur betäuben.»
Der Streber
Marcel trinkt einen Schluck Wasser. «Ein konkretes Beispiel», fährt der gebürtige Bündner fort. «Wir hatten vor ungefähr 15 Jahren eine Klassenzusammenkunft. Da kam eine ehemalige Schulkollegin auf mich zu und meinte: ‹Wen haben wir denn da? Marcel, der Streber!›. Diesen Titel wollte man keinesfalls haben. Es traf mich, machte mich gleichzeitig mega wütend. Ich liess mich daraufhin komplett volllaufen.»
Dieses Muster hätte sich rückblickend immer wieder bei ihm abgezeichnet, so Marcel: «Rein bechern, bis ich wieder etwas Ruhe in mir hatte – der Alkohol wurde zu einer Art Seelentröster.»
Fremdbeherrschung, Kontrollverlust, Alkoholsucht
Aus dem einstigen Feierabend-Drink mit den Arbeitskollegen, dem Cüpli am Kundenanlass und dem gemütlichen Glas Wein zum selbst gekochten Znacht wurden Fremdbeherrschung und Kontrollverlust. Alkoholsucht. «Die Frage, ob ich noch genug Wein zu Hause habe, lauerte ständig in meinem Hinterkopf», so Marcel. «Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, hing ich bereits am ersten Weinglas. Es war immer dieser Wein. Anderen Alkohol konnte ich nicht trinken, da wurde mir sofort übel. Mein Körper setzte mir hier glücklicherweise die Grenzen.»
Ebenfalls Grenzen setzte ihm seine Arbeit als Bänker: «Die Arbeit war eine Art Schutzschild: Während ich im Büro war, trank ich nicht. Und auch bei den Kundenanlässen hatte ich mich im Griff.» Sein Arbeitsumfeld hätte nie was von seiner wachsenden Sucht mitbekommen, er hätte deswegen nie gefehlt oder die Arbeit nicht erledigt.
Pension: Was dann?
Gerade weil sich die Arbeit für Marcel wie eine Flucht aus seiner Sucht anfühlte, wuchs seine Angst vor der Pension und dem «was dann?». Diese Angst gepaart mit einem Schlüsselmoment in den Ferien bewog ihn schlussendlich zum Reissleine-Ziehen.
«Es war 2019. Ich hatte einen Zeitungsartikel gelesen über Alkoholismus im Alter. Kurz daraufhin verreisten meine Frau und ich ans Rote Meer. Da war stets ein Kellner am Strand, der von morgens bis abends Wein servierte. Der Moment fuhr mir ein, als ich mich vormittags umsah und überall ältere Ehepaare mit Weingläsern in ihren Händen sah – uns inklusive. Dort realisierte ich: Ich will das nicht. Ich will als Pensionär nicht von morgens bis abends nur trinken.»
Die Frage nach dem Warum
Marcel kam mit er Erkenntnis aus den Ferien zurück, dass er ein Alkoholproblem hat. Der erste wichtige Schritt. Der nächste war, sich Hilfe zu suchen. «Dafür habe ich mich beim Alano Treff Luzern gemeldet. In gemeinsamen Gesprächen mit anderen Betroffenen konnte ich mich selbst besser verstehen und reflektieren. Warum trinke ich? Wie stark beherrscht es meinen Alltag? Bei mir bestand der Entzug vor allem darin, zu verstehen, warum ich trank.»
Der Weg aus der Sucht sei alles andere als einfach gewesen, so Marcel: «Ich hatte immer wieder Rückfälle. Von der Erkenntnis am Roten Meer ging es sicherlich eineinhalb Jahre, bis es einigermassen ohne Alkohol funktionierte. Das zeigte mir, wie viel Macht die Droge über mich hatte.»
Dennoch gelang es dem 64-Jährigen, trocken zu werden. Schritt für Schritt, Tag für Tag. «Ich begann damit, mir beispielsweise an einem Jassabend vorzunehmen, erst nach dem Jassen ein Glas zu trinken. Oder erst ab 22.30 Uhr. Ich versetzte den Alkohol immer weiter nach hinten, bis es irgendwann so spät war, dass es sich gar nicht mehr lohnte, überhaupt ein Glas zu trinken.»
«Besser versorgen und weiter gehen»
Vier Jahre nach seinem Schlüsselmoment sitzen wir gemeinsam bei einem Wasser und einem Ingwertee in einem Luzerner Café. Marcel wirkt gelassen, im Reinen mit sich selbst. Und frei. «Ich bin wieder fit, lebendig, ich bin so viel freier in all meinen Entscheidungen», meint er und schaut aus dem Fenster, wo die Reuss tobt.
Wenn ich Marcel so anschaue, scheint einzig sein Ohrring noch an diesen dunklen Lebensabschnitt zu erinnern: ein Dreieck im Kreis, das Logo der Anonymen Alkoholiker. Auch Marcel selbst sagt von sich, er habe sich körperlich, seelisch und geistig gut erholt. "Ich hatte Glück und habe noch rechtzeitig erkannt: Alkohol löst Arbeitsverträge auf, Beziehungen, alles Mögliche – aber Probleme löst er keine.»
Und auch wenn er heute trocken sei und sich von seinen Suchtjahren erholt habe, so bleibe der Alkoholismus ein Teil von ihm: "Ich sehe das Leben als Rucksack und was drin ist, kann ich nicht einfach ablegen. Was ich aber tun kann, ist, alles rauszunehmen, anzuschauen und es besser zu versorgen, damit es mich beim Tragen nicht stört.»