Steigende Armut

Obdachlosigkeit in Zürich: «Menschlichkeit ist die grösste Hilfe»

· Online seit 31.01.2023, 18:47 Uhr
In der Stadt Zürich nehmen Not und Armut zu. In diesem Winter kommen viele Menschen zum Verein Incontro, welche plötzlich und vor kurzem in die Armut geraten sind. ZüriToday hat mit den Menschen hinter dem Verein gesprochen.
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Die Not und die Armut in der Stadt Zürich nehmen zu. Schwester Ariane, Gründerin des Vereins Incontro, und Pfarrer Karl Wolf nehmen in der Arbeit auf der Gasse die wachsende prekäre Lage bei den um Hilfe fragenden Personen wahr. Der Verein setzt sich zum Ziel, die unantastbare Würde des Einzelnen zu bewahren und konkrete Unterstützung in ganz existentiellen Nöten zu geben. Im Interview mit ZüriToday erzählen Schwester Ariane und Karl Wolf, wie sich die Arbeit des Vereins seit diesem Winter verändert hat.

Schwester Ariane und Karl Wolf, seit Mitte Januar ist es spürbar kälter in Zürich. Inwiefern merkt ihr das bei eurer Arbeit?

Karl Wolf: Wir arbeiten in unserem kleinen Lokal Primero und in der Mensa unter freiem Himmel auf der Gasse hinter dem 25-Hours-Hotel. Wir merken, dass sowohl im Primero als auch in der Mensa die Anzahl der Personen, die nach Unterstützung und nach Mahlzeiten fragen, zunimmt.

Schwester Ariane: Das Primero ist meistens sehr voll. Menschen, die kein Zuhause haben, verspüren das Bedürfnis, drinnen zu sein, einen Kaffee zu trinken, eine warme Mahlzeit zu sich zu nehmen oder einfach in guter Gemeinschaft aufatmen zu können.

Ihr beobachtet auch, dass die Obdachlosigkeit in Zürich zunimmt... 

Karl Wolf: Wir bemerken, dass die Obdachlosigkeit zunimmt und sich verändert. Gerade diese Woche etwa hatten wir Gespräche mit zwei schon lange in der Schweiz wohnhaften und arbeitenden Menschen, die vor kurzem obdachlos wurden. Sie standen vorher im normalen Berufsleben. Lebenshaltungskosten, Energiekosten und Mieten steigen. Menschen, die sich mit ihren existentiellen Grundlagen bisher am Rande bewegten, können ihr Leben plötzlich nicht mehr finanzieren. Sie verlieren ihre Wohnung und finden sich auf der Strasse wieder.

Schwester Ariane: Uns fällt auf, dass die Menschen, die zu uns kommen, auch gesundheitlich zum Teil sehr angeschlagen sind. Sie haben beispielsweise Lungenentzündungen, heftige Grippe oder kommen von einem kurzen Spitalaufenthalt, weil sie unter schwerer Atemnot oder Fieber gelitten haben.

Karl Wolf: In den letzten Wochen hat sich die Besucherzahl im Lokal Primero verdreifacht. Immer wieder tauchen neue Gesichter auf. In der Mensa sind die Zahlen konstanter, aber auch da kommen immer wieder Leute, die gerade obdachlos geworden sind. Sie fragen nach einem Schlafsack oder einer Unterkunft.

Arbeitet ihr mit den Behörden zusammen, damit diese Leute eine Unterkunft finden?

Schwester Ariane: Beim Thema Wohnungssuche ist es richtig schwierig. Die Wohnungsnot zeigt sich in voller Härte. Zwei Schweizerinnen haben vor einigen Monaten ihre Wohnung verloren. Die vielen Absagen setzen ihnen richtig zu und sie haben fast keine Kraft mehr. Auch nur ein Zimmer zu finden ist fast unmöglich. Beide haben ihren Job verloren.

Und das macht die Wohnungssuche noch schwieriger. Ohne Job keine Wohnung, ohne Wohnung keinen Job. Und wer will einen obdachlosen Menschen anstellen? Oder einem arbeitslosen Menschen eine Wohnung geben, dessen finanzielle Situation unsicher ist? Beides erzeugt Abwehr.

Gibt es einen gemeinsamen «Nenner» bei den Menschen, welche neu obdachlos sind? 

Schwester Ariane: Unsere Erfahrung ist, dass Wanderarbeiter, die von der Obdachlosigkeit betroffen sind, im Durchschnitt jünger sind, als Schweizer oder Menschen mit einer Aufenthaltsbewilligung, die obdachlos werden. Oft sind letztere über 50 Jahre alt.

Karl Wolf: Das Geld ist knapp. Die Teuerung und die Energiepreise sind ein gravierendes Thema, ebenso die Gesundheit. Sehr häufig kommen psychische Belastungen hinzu und führen zu Depressionen. Es folgt der Stellenverlust und die Menschen können die konkreten Rechnungen nicht mehr bezahlen. Sie verlieren die Wohnung. Es sind ganz «normale» Menschen wie du und ich.

Jetzt haben wir viel von Schweizern gesprochen. Wie sieht es mit Wanderarbeitern aus? Beobachtet ihr da auch eine Zunahme der Armut?

Schwester Ariane: Wanderarbeiter kommen dieses Jahr nicht vorwiegend aus Osteuropa oder Südamerika, sondern auch aus England. Das ist für uns ein neues Phänomen. Auch die Gewalt und Aggressivität nimmt zu. Das hören wir auch von anderen Institutionen. Bei einigen ist auch der Alkohol ein Problem, wodurch Aggressivität und Gewaltbereitschaft steigen

Karl Wolf: Neben den Wanderarbeitern kommen viele geflüchtete Menschen zu uns. Geflüchtete aus der Ukraine verlieren jetzt ihre Zimmer bei ihren Gastgebern. Sie werden in Wohncontainern untergebracht, in denen die Wohnverhältnisse nicht immer adäquat zu nennen sind. Einige landen im schlimmsten Fall auf der Strasse.

Bei anderen Hilfsorganisationen klingt die Situation weniger dramatisch. Reden diese die Situation schön oder übertreibt Ihr?

Schwester Ariane: Wir arbeiten sehr niederschwellig. Wir sind so zu sagen ganz weit unten – dort, wo die Menschen durch alle Maschen fallen. Dadurch bekommen wir eine andere Seite der Stadt und der Not der Menschen mit. Die Menschen, die zu uns kommen, dürfen einfach kommen und müssen keine Bedingung erfüllen. Die Not hat ganz viele Seiten. Ich würde nicht sagen, dass andere Organisationen die Situation schönreden, sondern wir arbeiten an unterschiedlichen Orten und Schnittstellen.

Würden Sie sagen, dass die Not in diesem Winter zugenommen hat?

Karl Wolf: Gegenüber den letzten Jahren würden wir sagen: Ja, die Not hat zugenommen. Durch den Krieg entsteht zusätzlich Armut. Zudem geht die Wirtschaftsleistung verschiedener Länder zurück. Die Not bewegt Menschen, sich zu bewegen und zu wandern, um leben und überleben zu können. Dies alles wirkt zusammen.

Schwester Ariane: Durch Corona gibt es Menschen, welche eine angeschlagene Gesundheit haben. Nicht nur mental, auch körperlich, sie haben Long Covid, Herzprobleme oder hatten einen Hirnschlag. Depressionen und Erschöpfung gehören auch dazu. Ich denke da auch an die Familie, deren Vater während Corona depressiv wurde und nicht mehr arbeiten konnte, bis heute nicht. Die Frau erkrankte in derselben Zeit an Krebs. Sie arbeitet immer noch Teilzeit, um ihre Familie mit zwei Kindern irgendwie durchzubringen. Sie holt am Abend jeweils das Essen bei uns in der Mensa. Auf das Sozialamt möchte sie nicht gehen. Sie hat Angst, die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren.

Auch bei den Sexarbeitenden merken Sie eine Verschärfung der Not...

Pfarrer Karl Wolf: Es gibt viele Frauen und wenig Arbeit. Ein Teil der Prostitution hat sich ins Internet verlagert. Die Preise sind seit Corona gefallen, auf zwischen 20 und 50 Franken pro Service. Die Zimmer sind teurer geworden. Sie wissen teilweise kaum, wie sie ihr Essen bezahlen sollen. Die psychische Situation hat sich bei vielen Frauen wahrnehmbar verschlechtert. Die zunehmende Gewalt im Millieu macht ihnen zu schaffen.

Schwester Ariane: Die aktuelle Not zeigt sich in verschiedenen Facetten und es braucht einen differenzierten Blick. Da sind die Frauen und Männer im Milieu. Sie unterscheiden sich in ihrer Not von Menschen, die von Suchtkrankheit betroffen sind und auch ganz unten gelandet sind. Dann gibt es verschiedene Ursachen für die Obdachlosigkeit. Oder die Menschen, die vor einem Krieg geflüchtet sind und jetzt hier sind. Oder die alten Menschen, die in Altersarmut geraten sind oder die Familien, die fast nicht durchkommen.

Was können wir alle tun, um zu helfen? 

Karl Wolf: Ganz wichtig scheint uns, hinzuschauen. Sehen zu wollen, was los ist. Die innere Offenheit bewahren und den Menschen als Menschen wahrnehmen - in seiner Würde als Mensch. Ihn nicht als Loser oder Versager abzustempeln.

Schwester Ariane: Menschlichkeit ist die grösste Hilfe. Konkret helfen kann jeder und jede als freiwillige Helfer bei unterschiedlichen Organisationen. Oder spenden ist eine andere Form von Hilfe. Oder einfach durch die Art, wie ich dem Menschen, der in Not geraten ist, begegne: mit Offenheit, Annahme und Wärme. Sei es auf dem Weg zur Arbeit, im Tram, auf dem Bahnhof oder in der Nachbarschaft. Und wenn man die Möglichkeit als Arbeitgeber hat, solchen Menschen eine Chance zu geben, dann ist das eine echte Starthilfe für einen neuen Anfang. Oder wenn jemand, der Immobilien besitzt, auch diese Menschen bei der Vermietung im Blick hat, ist das mega. Beides kann einem Menschen wieder auf die Beine helfen und eine neue Zukunft eröffnen. Wichtig ist, dass uns allen bewusst ist: Es kann jeden treffen – auch mich.

Also auch die kleinen Dinge helfen wirklich...

Karl Wolf: Ja, es beginnt bei der konkreten Begegnung und dem Stil, wie wir mit Menschen umgehen. Das sagen uns die Personen, die zu uns kommen. Sie sagen uns, dass sie sich bei uns zuhause fühlen. Wir richten die Räume mit Wärme ein und schauen aufs Detail. Der Kaffee kommt mit Schlagrahm und einem Schöggeli. Wir bedienen die Menschen und begegnen ihnen auf Augenhöhe. Ein liebevolles Wort stellt auf und erhebt. Wenn es dir schlecht geht, was hilft dann? Wenn andere Menschen dir Vertrauen schenken, dir als Mensch begegnen und dir Wertschätzung schenken, gibt das Kraft. Und von hier aus kann man konkrete Lösungen ins Auge fassen.

Schwester Ariane: Ja, es sind ganz normale, einfache Dinge. Ich habe vor den Menschen, die zu uns kommen, tiefen Respekt. Sie haben in ihrem Leben sehr viel durchgemacht, haben oft alles verloren und stehen trotzdem noch. Oft strahlen sie viel Wärme und Menschlichkeit aus. Das ist ein Geschenk für uns alle und unsere Gesellschaft.

veröffentlicht: 31. Januar 2023 18:47
aktualisiert: 31. Januar 2023 18:47
Quelle: ZüriToday

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