Kriminalstatistik Zürich

Warum steigen die Vergewaltigungen in der Stadt um 38 Prozent?

29.03.2022, 16:19 Uhr
· Online seit 29.03.2022, 14:16 Uhr
Am Montag hat die Stadt Zürich ihre Kriminalstatistik 2021 veröffentlicht. Auffallend und beunruhigend: Die Vergewaltigungen nahmen um ganze 38 Prozent zu. Agota Lavoyer ist Expertin im Bereich sexualisierte Gewalt und spricht darüber, was sich ändern muss, um diese steigende Zahl in den Griff zu bekommen.
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Während Straftaten in den meisten Bereichen in der Stadt Zürich abzunehmen scheinen, gibt es einige wenige Ausnahmen vom positiven Trend. Krass ist der Anstieg bei Vergewaltigungen. Hier verzeichneten die Zürcher Behörden im letzten Jahr einen Anstieg um beunruhigende 38 Prozent. Anders als noch im Jahr davor, passierten viel mehr Fälle nicht im direkten Umfeld der Opfer – Freunde oder Familie –, sondern ausserhalb davon.

«Nur die Spitze des Eisbergs»

«Man muss aber aufpassen, diese Daten nicht fehlzuinterpretieren», mein Agota Lavoyer, Dozentin, Autorin und Expertin für sexualisierte Gewalt. «Ich glaube nicht, dass es deutlich mehr Vergewaltigungen gab, sondern dass einfach viel mehr Opfer Anzeige erstattet haben.» Die zunehmend breite öffentliche Debatte würde Betroffene dazu ermutigen, sich Hilfe zu holen, Daten offenzulegen und Täterinnen und Täter anzuzeigen.

«Ausserdem muss man bedenken, dass Vergewaltigungen oft Monate oder sogar Jahre nach der Tat bei den Behörden gemeldet werden. Die Anzeigen, die 2021 eingingen, könnten sich demnach auf einen viel breiteren Zeitraum beziehen, was eine Eingrenzung rein anhand der Zürcher Kriminalstatistik schwierig macht», so Lavoyer.

Ihr zu Folge muss man sich aber ganz klar bewusst machen, dass die Gesamtzahl aller Vergewaltigungen in der Stadt Zürich sicher deutlich höher ist als die gestern veröffentlichte Statistik zeigt. «Blickt man auf die Opferhilfestatistik oder auf die aktuellsten Studien, muss man von weitaus mehr Vergewaltigungen ausgehen, von welchen viele einfach immer noch nicht zur Anzeige gebracht werden. Die Zahlen der Kriminalstatistik zeigen nur die Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer ist deutlich höher», so Lavoyer.

«Über 80 Prozent der Opfer kannten die Täter vor der Tat»

Den Grund, die Aufhebung des Lockdowns hätte die Zahlen in die Höhe schiessen lassen, will Lavoyer so nicht gelten lassen. Die NZZ hatte in diesem Zusammenhang Beat Rhyner, Chef ad interim Kriminalabteilung bei der Stadtpolizei Zürich, zitiert, welcher die Zahl der gemeldeten Vergewaltigungen auf die Aufhebung von Corona-Massnahmen zurückführte. «Nicht der Lockdown oder dessen Aufhebung sind Schuld an den Vergewaltigungen, sondern eine gewalttätige Person, die jemand anderen missbraucht. Sexualisierte oder häusliche Gewalt entsteht nicht aus dem Affekt», sagt Lavoyer.

So müsse auch bedacht werden, dass während des Lockdowns Täter viel mehr Möglichkeiten hatten, Gewalt in den eigenen vier Wänden auszuüben. Opfer hingegen viel weniger Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen. «Dass die Taten ausserhalb des direkten Umfelds steigen, ist schlimm. Nach wie vor steht aber fest: Über 80 Prozent der Opfer kannten die Täter vor der Tat. Deshalb auch so wenige Anzeigen.»

"Die Jugend findet neue Wege, Frauen Gewalt anzutun»

Dass Vergewaltigungen in Zusammenhang mit K.O.-Tropfen und anderen betäubenden Substanzen stark zunehmen, überrascht Lavoyer hingegen wenig. «Bisher haben die Behörden vor allem mit Opferprävention gearbeitet, sprich Frauen gesagt: Nicht zu viel trinken, nicht allein unterwegs sein, kein Getränk unbeaufsichtigt stehen lassen. Mit miserablem Erfolg, die Zahlen sind immer noch enorm hoch, die Jugend findet neue Wege, Frauen Gewalt anzutun.» Laut Lavoyer muss man diese Opferprävention endlich durch eine Täterprävention ersetzen. Auch muss man ihr zufolge beginnen, alle Menschen in miteinzubeziehen, damit sich alle zuständig fühlen. «Es gibt noch zu viele Menschen, die wegschauen würden. Hier muss man in den Schulen tätig werden, aufklären und auch das nationale Strafrecht ändern. Auch die Medien haben einen enormen Einfluss.»

Je mehr aufgeklärt und über das Thema berichtet werde, desto eher hätten Opfer den Mut, an die Öffentlichkeit zu treten. «Das wirkt sich dann natürlich auf die Kriminalstatistiken aus. Meine Erfahrung zeigt: Jedes Interview, jeder Bericht, jeder Dokumentarfilm hilft den Betroffenen und ermutigt sie, Anzeige zu erstatten und ein Strafverfahren in Kauf zu nehmen.»

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veröffentlicht: 29. März 2022 14:16
aktualisiert: 29. März 2022 16:19
Quelle: ZüriToday

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