Zelleninsassin 110

Wenn Lippenpomade lebensnotwendig wird

16.10.2022, 22:16 Uhr
· Online seit 31.03.2022, 06:08 Uhr
Das Gefängnis Zürich-West nimmt Anfang April den Betrieb auf. Schon vorab testeten rund 170 Freiwillige den neusten Zürcher «Knast». Zu den Testerinnen gehörte auch ZüriToday-Redaktorin Joëlle Maillart. Hier gibts ihren eindrücklichen Erlebnisbericht.

Quelle: Today-Redaktorin Joëlle Maillart testet ein Gefängnis in Zürich / 30. März 2022

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Ein kleiner Raum, weisse Wände, ein Betonstuhl und -tisch, eine Kloschüssel aus Stahl und kein Fenster. Ein liebloser Raum, schätzungsweise eineinhalb auf zwei Meter lang und knapp vier Meter hoch. In der Wartezelle des Gefängnis Zürich West verlierst du jegliches Zeitgefühl.

Freitagabend, 23.45 Uhr

Nach meiner Ankunft hat mich eine Aufseherin beim Eingang abgeholt. Ich musste alles, ausser meiner Kleidung, abgeben. Danach hat sie mich in eine Wartezelle gesperrt. Es gibt definitiv angenehmere Orte. Für Festgenommene, die aus einem Grund hier drinnen sitzen oder sogar unter Drogen stehen, stelle ich mir diese kleine, fensterlose Zelle extrem beklemmend vor.

Keine Ahnung wie lang ich schon warte, als jemand an die Tür klopft und durch das Sichtfenster guckt. Eine andere Aufseherin begrüsst mich und nimmt mich mit. Sie führt mich durch diverse Gänge und Türen zu einem neuen Raum – zur Leibesvisitation.

Keine Hollywood-Streifen

Zuerst mache ich mich obenrum frei, danach untenrum. Das ganze Outfit, samt Unterwäsche, wird ersetzt durch «Knast-Kleidung». Es handelt sich aber nicht um einen orangen Overall oder schwarz-weiss gestreifte Kleider, sondern um einen grauen Pulli und eine schwarze Trainerhose. Beides sehr flauschig und bequem. Da gerade viel Eintritte stattfinden, hat es keine Frauenunterwäsche mehr. Deshalb kriege ich Männerboxershorts, dazu schwarze Socken und Crocs.

Nach dem Umstyling bringt mich die Aufseherin in eine andere Wartezelle. Die hier ist noch beklemmender, denn sie ist noch kleiner. Die Aufseherin lässt mich aber nicht lange warten und führt mich endlich zu meiner Zelle – ich bin trotz Aufregung sehr müde.

Die lebensnotwendige Box

Es stellt sich heraus, dass der ganze Eintrittsprozess gut zwei Stunden gedauert hat – beim Testbetrieb ist auch ziemlich was los. Eine andere verhaftete Person habe ich aber bis jetzt noch nicht gesehen. Bevor die Aufseherin die Zellentür öffnet, drückt sie mir noch eine Box in die Hand – mein einziges Hab und Gut. Sie beinhaltet die notwendigsten Dinge.

Zusätzlich gibt sie mir einen Fliessstoff-Bettbezug für die Matratze und das Kopfkissen, dazu eine dünne Bettdecke. Zudem darf ich mir ein Buch auswählen und einen kleinen Snack einpacken. Da ich Thriller liebe, entscheide ich mich für das Buch «Tödliche Wut». Branchli und Grissini dienen als Snack.

Schlafende Unbekannte

Die Aufseherin bemerkt beim Blick durch das Guckloch, dass bereits eine Insassin in der Zelle ist. Sie schläft. Somit schleiche ich wie ein Ninja durch die Zelle, ziehe mein Bett an, putze mir die Zähne und lege mich ins Bett. Da klopft es nochmals an der Tür.

Der Gesundheitsbetreuer besucht jede Person beim Eintritt und erkundet sich, ob man Medikamente einnehmen muss oder ein Leiden besteht. Für später auftretende Probleme dient der Notfallknopf in der Zelle. Da ich Kontaktlinsenträgerin bin, bitte ich ihn, mir diese aus meinem Rucksack zu bringen, was er wenige Minuten später macht. Danach kann ich endlich schlafen.

Ich fühle mich sehr unwohl, nicht wegen der Zelle, sondern wegen der Person, die gleich neben mir liegt und ich keine Ahnung habe, wer sie ist, wie sie tickt. Zum Glück ist es nur ein Testbetrieb, sonst würde ich wohl kein Auge zu tun.

Keine Morgenmuffel

Ehrlich gesagt habe ich mich aufs Ausschlafen gefreut, aber da habe ich mich getäuscht. Vor 7 Uhr ertönt ein Piepsen durch den Lautsprecher und eine Männerstimme sagt: «Guete Morge, es isch de 26.03., äs isch viertelvor Sibni.» Auch wenn es früh ist, finde ich die Begrüssung nett.

Meine Nacht war ganz okey. Einzig die steinharte Matratze ist nicht kompatibel mit meiner Hüfte, die mich wegen Schmerzen immer wieder aus dem Schlaf gerissen hat. Wenigstens war meine «Mitbewohnerin» eine ruhige Schläferin.

Da sehe ich sie auch zum ersten Mal in wachem Zustand. Maria ist Sozialpädagogin und hat sich aus eigenem Interesse für den Testbetrieb angemeldet. Wir sind gleich alt, sind keine Morgenmuffel und verstehen uns sofort prächtig.

Der Tag startet mit dem Frühstück – drei Scheiben Brot, Butter und Konfi. Die Butter benutze ich unteranderem für meine trockenen Lippen. Ich bin keine Labello-Abhängige, trotzdem wünschte ich mir einen in der kleinen Box. Meiner Zimmergenossin geht es genau gleich - geteiltes Leid ist halbes Leid und macht erfinderisch.

Diät für Snackerin

Die Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen vertreiben wir uns mit lesen, reden und spielen - so geht der Hunger ein bisschen vergessen. Bevor es wieder etwas zwischen die Beisser gibt, werde ich für die Dusche abgeholt.

Ein Raum mit sechs Kabinen. Ich kriege Duschmittel und ein Frottéetuch in die Hand gedrückt, aber keine frische Unterhose - aufgrund Lieferschwierigkeiten, wie mir gesagt wird. Trotzdem: Auch mit alter Männerboxershorts fühle ich mich frischer.

Da ich eine geborene Snackerin bin, sorgen Zwischenmahlzeiten dafür, dass ich nicht «hangry» werde. In der vorläufigen Festnahme gibt es jedoch keine Snacks. Deshalb essen wir vor dem Z'Mittag schon mal die Grissini, die ich am Abend beim Eintritt bekommen habe. Kurze Zeit später gibts Lunch: vegetarischer Fleischkäse mit Pasta, Gemüse und Tomatensauce. Lecker, aber eher zu wenig.

Abschied nehmen

Nach der Siesta – der Vorteil, wenn man in der Zelle sitzt – werden wir auf den Hofspaziergang eingeladen. Da lerne ich die anderen Insassinnen kennen. Wir tauschen uns aus, geniessen die Sonne und nutzen den Pingpongtisch für eine Partie Rundlauf. Die frische Luft und das sommerliche Wetter tun gut – bitter, wenn man danach wieder in die Zelle muss.

Am Nachmittag erhält meine Zellengenossin die Information, dass sie entlassen sei. Sie packt ihre Box und hinterlässt mir ihre Nummer auf dem Briefpapier. Da ich kein Problem mit Alleinsein habe, beschäftige ich mich bis zum Nachtessen mit einem Workout und ein paar Yogaübungen.

Hoffnung auf Bettmümpfeli

Mein Hunger ist schon wieder riesig. Deshalb esse ich mein Branchli. Diese Entscheidung werde ich später noch bereuen, denn das Abendessen wird mir bereits um 17.30 Uhr zur Zelle gebracht und besteht aus einer Banane mit einem Müsli. Sehr lecker, aber für mich eine kleine Vorspeise.

Den Abend verbringe ich vor dem Fernseher und der Hoffnung, dass es noch einen Snack gibt – leider nein. Um 22 Uhr ist Nachtruhe, kein Problem für mich, da ich auch zu Hause so früh ins Bett gehe. Ich bin gespannt, ob ich mitten in der Nach eine neue «Mitbewohnerin» bekomme.

Sonntagmorgen, 6.45 Uhr

Auch heute ist der Wecker eine nette Durchsage mit Tag und Datum. Abgesehen von meiner schmerzenden Hüfte war meine Nacht sehr gut. Das Bett neben mir ist immer noch unbenutzt. Also mache ich mein «Morning Yoga Flow» und freue mich nach dem mageren Abendessen auf die paar hungerstillenden Brotscheiben und die Butter, um meine Lippen damit zu beschmieren.

Nach dem Frühstück erfahre ich, dass ich in einer halben Stunde entlassen werde. Ich packe meine Sachen, viel gibt es ja nicht, kommuniziere mit meinen Zellennachbarn via Handzeichen durch die Fensterscheibe, dass ich die Zelle verlasse und winke ihnen zum Abschied zu.

Das Klopfen an der Tür ertönt - zum letzten Mal. Die Aufseherin läuft hinter mir und führt mich wieder durch verwirrend viele Gänge und Türen zum Ort, wo ich meine persönlichen Dinge zurück bekomme, die ich bei der Festnahme dabei hatte. Meine Lippenpomade finde ich leider nicht auf Anhieb.

Freiheit aus der kleinen Box

Draussen scheint die Sonne, die Vögel zwitschern und es ist noch sehr ruhig in der Stadt. Es ist ein seltsames Gefühl und ich nutze die Ruhe und die Nichterreichbarkeit der letzten Tage auch auf dem Weg nach Hause – ich lasse mein Natel im Flugmodus.

Der Aufenthalt bringt mich ins Grübeln. Er hat mir mal wieder gezeigt, wie unterschiedlich das Leben von Menschen sein kann und mit wie wenig man eigentlich auskommen kann – zumindest ich. Für manche kann so eine Box sicherlich beengend wirken, aber für mich hatte sie etwas befreiendes.

veröffentlicht: 31. März 2022 06:08
aktualisiert: 16. Oktober 2022 22:16
Quelle: ZüriToday

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