«Liebe Eltern, liebe Jugendliche und liebe Kinder…»: So beginnt das Schreiben, das die Kinderpraxis Oerlikon in den letzten Wochen an ihren Patientenstamm geschickt hat. Auf der Website winken Comic-Tiere zum Abschied und vergiessen gar ein paar Tränen. «Nach den Sommerferien 2023 wird die Kinderpraxis Oerlikon nach 25 Jahren Tätigkeit schliessen», heisst es weiter.
Niemand will die Praxis übernehmen
Man habe keine Ärztinnen oder Ärzte gefunden, welche die Praxis übernehmen können oder möchten. Bis Ende des Sommers können die Eltern die Akten ihrer Kinder abholen. Danach schliessen die Tore der Praxis an der Schulstrasse 37 endgültig, schreiben die beiden Pädiater und ihr Team. Für viele Eltern ist die Schliessung eine Hiobsbotschaft.
«Seitdem ich davon weiss, habe ich sicher ein Dutzend Arztpraxen angerufen. Und alle haben uns direkt ans Kinderspital weitergeleitet", schildert eine betroffene Mutter. "Ich will aber für meine Kinder jemanden, der sie und ihre Krankengeschichte kennt, jemanden, der sie jahrelang begleitet. Und keinen Fremden, der immer mal wieder bei Notfällen einspringt.»
«Angespannte Situation wird sich weiter verschärfen»
Dass die Praxis in Oerlikon kein Einzelfall und die Lage derzeit tatsächlich besorgniserregend ist, kann Corina Wilhelm, Vorstandsmitglied der Vereinigung Zürcher Kinder- und Jugendärzte VKZ, bestätigen. «In den vergangenen Jahren beobachteten wir eine steigende Tendenz zur Unterversorgung. Ideal wären 1000 Patientinnen pro in Vollzeit tätigem Arzt oder Ärztin.»
Dieser Berechnung zufolge mangelt es im Kanton Zürich derzeit an mindestens 50 Ärzten. Weil aber die wenigstens in Vollzeit arbeiten, ist die Zahl der fehlenden Ärzte deutlich höher.
Gründe hierfür sieht Wilhelm zum einen im starken Bevölkerungswachstum der Region. Auch gehen immer mehr praktizierende Ärzte in den Ruhestand und keine neuen kommen nach. «Jede vierte Ärztin und jeder vierte Arzt im Kanton ist über 60 Jahre alt. Damit will ich sagen, dass sich die Versorgungssituation für Kinder und Jugendliche, welche bereits jetzt sehr angespannt ist, in den kommenden Jahren deutlich verschärfen wird.»
Ärzte bevorzugen Spital statt Selbstständigkeit
Dazu kommen laut VKZ zu wenige Studienplätze und unvorteilhafte und gar abschreckende Rahmenbedingungen für selbstständige Ärzte. Im Spital angestellt zu bleiben, anstatt in eine Praxis einzusteigen oder selbst eine zu eröffnen, sei für viele deshalb der bevorzugte Weg, erklärt Gian Bischoff, Präsident der VKZ. «Es braucht deswegen in erster Linie eine Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Praxis, um die Attraktivität des Berufes als niedergelassenen Kinderarzt oder niedergelassene Kinderärztin zu steigern: weniger administrative Aufgaben und zeitgemässe Tarif- und Finanzierungssysteme.»
Hier sei die Politik gefragt. «Es muss endlich ein zeitgemässer Tarif eingeführt werden, der zu einer Aufwertung der Haus- und Kinderarztmedizin beiträgt. Leider wird dies momentan auf Bundesebene blockiert», so Bischoff.
Neugeborene haben Glück im Unglück
Im Interview sprechen betroffene Eltern aus Oerlikon von schierer Verzweiflung. «Wir finden keine neue Praxis in der Stadt, niemand will uns nehmen.» So würden Kinderärzte in Zürich nur mehr Neugeborene oder Kleinkinder übernehmen. «Sobald ich am Telefon sage, dass mein Kind schon etwas älter ist, heisst es: Nein, Aufnahmestopp.»
Corina Wilhelm und Gian Bischoff von der VKZ bestätigen, dass Neugeborene, Säuglinge sowie Kinder mit besonderen Bedürfnissen prioritär behandelt werden.
Befragte Eltern vermuten hinter dieser Praxis vor allem eins: Neugeborene würden mehr Geld in die Kassen spülen, sie müssen regelmässig zur Kontrolle, sind öfters krank, Impfungen stehen an. Ihre Behandlung sei einfach lukrativer.
Wilhelm von der VKZ erklärt: «Aus meiner Praxis kann ich berichten, dass wir alles daransetzen, um mindestens den Neugeborenen und Säuglingen sowie den Kindern mit besonderen Bedürfnissen eine pädiatrische Begleitung zu ermöglichen. Es ist sehr unbefriedigend, Familien abweisen zu müssen, aber für viele Kinderärztinnen oder -ärzte gibt es momentan einfach keinen anderen Weg.»
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Niemand will die Kinder aufnehmen
VKZ-Präsident Bischoff ergänzt: «Die derzeitige Lage führt dazu, dass es für Familien, welche umziehen oder von der Schliessung einer Praxis betroffen sind, sehr schwierig bis manchmal fast unmöglich ist, eine neue Kinderarztpraxis zu finden.» Genau vor dieser Situation stehen nun hunderte Eltern und Kinder in Oerlikon.
Die Hoffnung, in der Stadt eine Praxis zu finden, hat eine befragte Mutter mittlerweile aufgeben. «Ich suche nun in Winti und Umgebung. Noch ohne Erfolg. Und ganz vielen Eltern geht es gleich, wir alle schieben Panik, weil wir keine Folgelösung haben.»