Gewalt

Schlagen, treten, quälen – Was läuft schief auf Zürcher Schulhöfen?

16.03.2022, 14:15 Uhr
· Online seit 16.03.2022, 13:18 Uhr
«Schwierigen Kindern und Jugendlichen fehlt es nicht an Therapien, sondern an Erziehung». Dieses Zitat ziert die Rückseite des Buches von Sefika Garibovic, Expertin für Nacherziehung. Wie kann die Gewalt an Schulen vermindert werden? Wir zeigen das Beispiel einer Zürcher Schule und die Inputs der Expertin.
Anzeige

Es ist ein Video, das sprachlos macht: Eine Gruppe von etwa zehn Jungs schlagen auf einen Mitschüler ein, werfen ihn zu Boden und treten ihm kräftig in den Bauch. Das Video wurde uns von einem ZüriReporter zugespielt. Dabei handelt es sich nur um ein eines von vielen Beispielen für die Gewalt unter Jugendlichen. Und spezifischer für die Gewalt an Schulen.

Das Schulareal ist 24/7 zugänglich

Ob instabile familiäre Verhältnisse, Gewaltverherrlichung oder Faszination: Es gibt einige Gründe, warum die Gewalt an Schulen sehr präsent ist. «Die Jugendgewalt nimmt rasant zu und wird verharmlost. Es gibt zu wenig Profis in der Schweiz auf diesem Gebiet», sagt Sefika Garibovic, Autorin und Expertin für Nacherziehung, Kommunikation, systemisch orientierte Therapie und Konfliktmanagement.

«Bei den Tätern besteht ein Leidensdruck. Der Hintergrund ist die ungenügende Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben und Konflikte verbal zu lösen», so Garibovic. Es gibt zwei Arten von Aggressionen: Die instrumentelle Art ist ein erlerntes Verhalten von zu Hause oder von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Die appetitive Aggression entsteht hingegen dann, wenn das Leiden der Opfer zu einem Lustgewinn beim Täter führt. «Es entwickelt sich eine Lust. Es ist eine Neigung, ein Appetit, ein Kind zu quälen», so Garibovic.

Wie sollen Gewaltsituationen gelöst werden?

Die Schule als öffentlicher Raum ist zu jeder Tages- und Nachtzeit zugänglich und ist damit auch immer wieder ein Ort für Vorfälle. «Während der Schulzeit sind uns solche Prügeleien nicht bekannt», sagt Siegrist, als die ZüriToday Redaktion ihm vom genannten Video erzählt. An seiner Schule gebe es eine Nulltoleranz gegenüber Gewalt. «Konflikte werden unterbunden. Ein Schupfen kann passieren, aber sobald es eine Eskalation unter mehreren Schülern gibt, sind die Pausenaufsicht und entsprechende Lehrkräfte in der Verantwortung, die Situation zu lösen.»

Laut Garibovic soll der Täter für seine Aktionen geradestehen, aber ihm muss insbesondere vermittelt werden, dass es keine Strafe ist und dass man da ist, um ihm zur Seite zu stehen. «Weder die Schule noch die Eltern vermitteln den Kindern Werte, Normen oder eine ethische Haltung. Sobald ein Kind nicht funktioniert, wird es in Behandlung oder in ein Heim geschickt», so Garibovic.

Eltern müssen involviert werden

Die Expertin sagt, dem Täter eines Gewaltdeliktes im Zusammenhang mit der Schule soll jedoch auch geholfen werden. «Man muss den Täter mit seinen Taten konfrontieren und zeigen, was das bedeutet. Man muss ihn erreichen, mit ihm eine Beziehung aufbauen.» Das Abschieben zu einer Psychologin sei die falsche Lösung. «Ohne die Schule und die Eltern einzubeziehen, kann man die Gewalt nicht unter Kontrolle kriegen».

In Sitzungen, zum Beispiel in ihrer Praxis in Zug, werden bei Sefika Garibovic die Eltern sofort einbezogen. Auch wenn Kinder und Jugendliche auch alleine an Sitzungen teilnehmen, sind die Eltern grösstenteils involviert. Denn oft muss man laut Garibovic bei den Wurzeln beginnen: Keine Symptome bekämpfen, sondern die Ursachen dekodieren.

«Squid Game» auf dem Schulhof

Die Schule Dietikon zeigt ein Beispiel, welche Massnahmen nach einer heiklen Situation ergriffen wurden. Denn letztes Jahr wurde auf dem Pausenplatz «Squid Game» gespielt. Laut verschiedenster Medienberichte hätte die Pausenaufsicht nur mit Mühe durchgreifen können. Im Anschluss darauf, sandte die Leitung der Schulsozialarbeit allen Eltern ein professionelles Grundlagendokument, das folgenden Inhalt hatte:

  • Um was geht es bei Squid Game? Wie kommt das Kind in Kontakt damit?
  • Was fasziniert Kinder und Jugendliche an gewalttätigen Serien?
  • Wie können Lehrpersonen und Eltern dazu beitragen, dass diese Kinder damit umgehen können?

Zielführende Massnahmen

Die Abnahme von Gewaltdelikten auf dem Schulhof in Dietikon hätte unter anderem damit zu tun, dass zusätzlich zur Pausenaufsicht in den Primarschulhäusern Peacemaker vor Ort seien. Die Peacemaker seien im Rahmen der Schuleinheit entsprechend ausgebildet und würden dazwischengehen, sobald ein Konflikt entsteht. «Peacemaker kommen auch in anderen Fällen zum Einsatz, zum Beispiel, wenn ein Kind immer allein Pause macht», so Siegrist. Der Peacemaker versuche dann, dieses Kind sozial zu integrieren.

Ab diesem Sommer starte die Schule Dietikon in drei Schuleinheiten mit ISBs, sagt Siegrist. «Das sind Spezialisten für intensive sozialpädagogische Begleitung und Beratung von Kind und Eltern», sagt Siegrist. Diese kämen dazu, wenn die Schulsozialarbeit zu kurz greift. «Die ISBs gehen auch zu den Eltern nach Hause und nehmen sie in die Pflicht indem sie zeigen, was ihr Beitrag ist, dass ihr Kind sozial besser integriert werden kann», so der Schulvorsteher.

Social Media ist grosses Thema

«In Fällen, die mit Gewalt zu tun haben und bei denen es sich um eine grössere Geschichte handelt, wird auch die KESB involviert», ergänzt Pier A. Chalfajew, Leiter Bildung der Schule Dietikon. «Diese sprechen in extremen Fällen eine Beistandschaft zu, welche dann mit den Eltern zusammenarbeiten.» Es gehe darum, wie Eltern mit gewissen Herausforderungen beim Kind und bei Jugendlichen umgehen sollen, so Chalfajew.

An der Schule Dietikon wird auch der Umgang mit Social Media thematisiert. «Die Problematik ist, dass es den Eltern nicht bewusst ist, dass sie auch in diesen Bereichen verantwortlich sind», sagt Chalfajew. Sie wüssten nicht oder es interessiere sie nur bedingt, was die Kinder konsumieren.

Was fehlt noch?

Trotz guter Massnahmen am Beispiel der Schule Dietikon fehlt für Sefika Garibovic eines: Das Befassen mit Ethik. «Man muss mehr über Ethik unterrichten, über Werte und Normen sprechen. An unseren Schulen wird gewartet, bis es eskaliert. Aber alle Kinder sollten sich prophylaktisch mit Werten und Normen auseinandersetzen», so Garibovic.

Dadurch würde den Kindern und Jugendlichen eine positive beziehungsorientiere Perspektive eröffnet. Um zurück zur Schule Dietikon zu kommen: Dort wurden vor vier Jahren noch viel mehr «Krisenfälle» verzeichnet. Der Schulvorstand sieht die Verbesserung in den ergriffenen Massnahmen und aufgrund der Vermittlung der «neuen Autorität» Stärke statt Macht. Lösungen würden mit Positionierung und Thematisierung gefunden und nicht mit Macht, sagt Siegrist.

Ein Schritt in die richtige Richtung? Im Fall Dietikon legt die Vermittlung der neuen Autorität auf jeden Fall den Grundstein für die Vermittlung von Werten und Normen. In der gesamten Schweiz braucht es dennoch mehr Profis, die von der Schule einbezogen werden. «Es braucht mehr Experten zum Thema Nacherziehung, die Kinder müssen lernen zusammenzuhalten», so Garibovic.

veröffentlicht: 16. März 2022 13:18
aktualisiert: 16. März 2022 14:15
Quelle: ZüriToday

Anzeige
Anzeige
zueritoday@chmedia.ch