Kinder-Spitex

«Man muss sich auch mit überrissenen Forderungen der Eltern auseinandersetzen»

· Online seit 12.03.2023, 15:20 Uhr
Die Geschichte der Familie Kälin*, deren Tochter eine Tumor-Diagnose bekommen hat, bewegt. Das Schicksal trifft die Familie hart. Hilfe leistet in solchen Fällen die Kinder-Spitex. ZüriToday hat mit dem Gründer der Kinderspitex Ostschweiz gesprochen.
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Im ersten Teil dieser Geschichte hat ZüriToday eine Familie porträtiert, die mit der Schockdiagnose embryonaler Keimzellentumor der 13-jährigen Tochter zurechtkommen muss.

Im Falle der Familie Kälin* aus dem Kanton Thurgau, läuft die Organisation des Alltags und der Umgang mit der Krankheit entsprechend gut ab. Der Fall ist klar, sie bekommen finanzielle Hilfe von der Kinderkrebshilfe Schweiz und die IV bezahlt alle Kosten, denn das Mädchen hat den Tumor seit Geburt, nur bislang blieb er still. Was geschieht aber, wenn der Fall nicht so klar ist? Wenn sich Krankenkasse und IV den Ball gegenseitig zuwerfen und es teils Jahre dauert, bis klar ist, wer zahlt? Wer kommt einer solchen Familie zu Hilfe?

Eine Organisation, die vom Spital, dem Kinderarzt oder der Sozialhelferin kontaktiert wird, ist der Verband Kinder-Spitex Schweiz mit Hauptsitz in Zürich. 15 Organisationen aus der ganzen Schweiz gehören ihm an, so auch der Verein Kinderspitex Ostschweiz.

Die Kinderspitex Ostschweiz

Gründer und Geschäftsführer Thomas Engeli aus dem Kanton Thurgau hat den Verein Kinderspitex Ostschweiz vor 23 Jahren gegründet. Aus einer Notsituation heraus, wie er ZüriToday erklärt.

Herr Engeli, wie kam es dazu, dass sie die Kinderspitex Ostschweiz gegründet haben?

Thomas Engeli: Unser jüngstes Kind hatte eine schwere Stoffwechselkrankheit und brauchte praktisch rund um die Uhr Betreuung. Meine Frau hatte nach zwei Jahren einen Nervenzusammenbruch. Sie konnte nicht mehr. Da wurde mir klar, dass es kaum Angebote gab, die wirklich nützliche Hilfe und Betreuung leisteten. Zwar bin ich Unternehmer und keine Pflegefachperson, aber es war dringend nötig, dass es jemanden gab, der die Fachpersonen an die Familien vermitteln konnte.

Der Begriff Spitex ist vielen Menschen wohl eher durch die Betreuung älterer Menschen bekannt.

Das Spitex-Angebot nehmen viele ältere Menschen in Anspruch, um so lange wie möglich zu Hause gepflegt zu werden. Dass es jedoch auch Kinder trifft, die diese Hilfe beanspruchen müssen, weil sie krank werden oder von Geburt an eine Behinderung haben, ist vielen gar nicht bewusst. Bis zum 18. Lebensjahr werden die Kinder von der Kinderspitex betreut – oder so lange, wie es bis zur Genesung nötig ist.

Wie genau läuft es von der Diagnose bis zum Zeitpunkt, an dem die Kinderspitex ins Spiel kommt, ab?

Schon im Spital beginnen unsere Aufgaben. Ein Care-Team wird hier aktiv. Man muss mit jeder Familie einzeln abklären, wo Hilfe gebraucht wird. Beispielsweise die Entlastung der Eltern, die arbeiten müssen. Abklärungen mit der Krankenkasse und der Invalidenversicherung, sprich mit den Sozialbehörden. Dazu kommt die Koordination von Abläufen. Die Eltern wissen am Anfang oft gar nichts und eine klare Diagnose gibt es meist erst später. Ansprechpersonen werden vermittelt. Hier agiert die Kinderspitex auch als Auffanglösung.

Worauf kommt es an, damit die Kinder zu Hause gepflegt und betreut werden können?

Wir wollen mit unserem Angebot eine «Drittplatzierung» des Kindes vermeiden, beispielsweise wenn den Eltern das zweite Einkommen fehlt, weil sie die Betreuungsaufgabe übernehmen müssen. Das müssten die Behörden dann zwar bezahlen, aber wir kämpfen für das Anrecht auf ein Familienleben. Dafür muss die Familie intakt sein. Unser Angebot wirkt also auf das gesamte Gesundheits- und Sozialwesen kostendämmend, weil die betroffenen Kinder sonst meistens hospitalisiert werden.

Die Kinderspitex hilft auch bei Rechtsfragen. Was wird hier konkret getan?

Wir klären die rechtlichen Gegebenheiten mit den Behörden. In unklaren Fällen helfen wir zur Überbrückung schlimmstenfalls mit Spendengeldern aus. Ich habe in all den Jahren über 300 Fälle betreut, deren Fall vor Gericht gelandet ist. Dies, weil sich die Parteien um Zahlungen gestritten haben. In manchen Fällen dauert ein Verfahren zwei Jahre.

Wie finanziert sich die Kinderspitex?

Die Dienstleistungen Pflege und Betreuung werden teils durch die Invalidenversicherung und Krankenkasse bezahlt, nicht aber die einzelnen Zusatzangebote zur Entlastung. Dafür ist der Verein auf Spenden angewiesen. Regelmässig organisiert unser Team deshalb Events, und kann für die Unterhaltung zum Glück auf prominente Personen wie Comedian Stefan Büsser, Sängerin Nubya, oder Comedian Helga Schneider zählen. Diese Events, und auch unsere Botschafter, sorgen dafür, dass spendierfreudige Menschen bestens unterhalten sind und auch aufgeklärt werden über die Schicksale.

Was braucht es, um für die Kinderspitex arbeiten zu können?

Für den Verein Kinderspitex Ostschweiz arbeiten ausschliesslich ausgebildete Pflegerinnen und Pfleger sowie Fachpersonen. Sonst wäre man bei den Krankenkassen nicht anerkannt. Interessant ist der Fact, dass man für alte Menschen alles klar strukturiert hat bei den Abrechnungen, es jedoch bei Kindern gar nicht so klar ist, welche Tarife benutzt werden. Der Aufwand ist bei Kindern aber viel grösser.

Welche Hilfsangebote bietet die Kinderspitex zur Entlastung sonst noch an?

Um eine Überforderung im ganzen Alltagsstress zumindest teilweise zu verhindern, bietet die «Hängematte» Ferienplätze für pflegebedürftige Kinder an. Oder wir verschaffen Auszeiten mit den «Glücksstunden», welche für die betreuenden Eltern von schwer kranken und behinderten Kindern sehr wichtig sind, um neue Kraft zu schöpfen. Dazu kommen weitere Dienstleistungen hinzu wie Sterbebegleitung, Spitex-Mobile, Herzenswünsche erfüllen oder wie erwähnt der Rechtsdienst.

Mit welchen Schwierigkeiten kämpfen Sie?

Wir kämpfen immer für genügend Spendengelder. Spenden-Aquise ist eine grosse Arbeit. Aber durch Events und unterhaltsame Aktionen erfahren die Leute von unserem Angebot. Oft muss man sich natürlich auch mit überrissenen Forderungen der Eltern auseinandersetzen, das ist jedoch nicht die Aufgabe der Kinderspitex. Die Spendengelder müssen weise eingesetzt werden.

veröffentlicht: 12. März 2023 15:20
aktualisiert: 12. März 2023 15:20
Quelle: ZüriToday

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