Zürich

Kurzgeschichte «Die Brücke» an Zürcher Aufnahmeprüfung für Langgymnasium sorgt für Entsetzen

«Suizid als Thema»

Deutschtext an Zürcher Gymiprüfung sorgt für Entsetzen

06.03.2024, 23:24 Uhr
· Online seit 06.03.2024, 06:58 Uhr
In einer Kurzgeschichte der Aufnahmeprüfung für das Langgymnasium sollen Vater und Sohn über den Sprung von einer Brücke geplaudert haben. Ein Vater kritisiert die Textwahl. Laut dem Mittelschulamt kam an der Prüfung aber nicht der Originaltext vor.
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Die Zürcher Gymianwärterinnen und -anwärter haben die Aufnahmeprüfung für das Langgymnasium hinter sich. Für den Vater einer Kandidatin ist die Prüfung vom Montag damit noch nicht abgehakt. Peter Vogel kritisiert in einem Post auf Linkedin den Inhalt einer Prüfungsaufgabe im Fach Deutsch. In dieser hätten die Kandidierenden den Text «Die Brücke» von Reinhold Ziegler interpretieren müssen.

«Nach der Prüfung haben wir mit unserer Tochter gesprochen und waren schockiert, als wir realisierten, dass Suizid, wenn auch nur indirekt, eines der Themen im Text war, verpackt in die Diskussion eines Teenagers und seines Vaters, die auf einer Brücke stehen und darüber plaudern, wie es wäre, hinunterzuspringen», sagt der Vater einer 12-jährigen Tochter zu ZüriToday.

Die Kurzgeschichte stammt aus dem 2001 veröffentlichten Band «Der Strassengeher ... und andere kleine Versuche, die Welt zu verstehen». Darin steht eine vierköpfige Familie in Le Havre in Frankreich vor einer «gigantischen Brücke», die sie zu Fuss besichtigen will. Da Jans Mutter und Schwester nicht mitkommen wollen, wandert er mit seinem Vater zum Scheitel der Riesenbrücke. Dort kommt es zur besagten Unterhaltung. «Ob man heil bleibt, wenn man runterjumpt?», fragt der Sohn den Vater darin etwa. Manchmal meine er, er müsse so etwas probieren.

«Möchte mir nicht vorstellen, wie es Kindern mit psychischen Problemen ergeht»

«Ich finde die Textwahl für eine Aufnahmeprüfung ungeschickt», sagt Peter Vogel. Jugendliche hätten in dieser Phase des Lebens ohnehin schon viel um die Ohren. Als Beispiel erwähnt er den Leistungsdruck in der Schule, digitale Medien und die Pubertät. Nicht erst seit der Covid-Krise gebe es immer mehr Kinder und Jugendliche, die unter psychischen Problemen litten. Die Kinderpsychiatrien seien vollkommen ausgelastet. «Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es Kindern mit psychischen Problemen oder instabilen familiären Situationen ergeht, die die Prüfung nicht bestehen, oder aber Kindern, die mit Erfolgsdruck von Zuhause umgehen müssen. Da ist so ein Text aus meiner Sicht nicht ganz unproblematisch.»

Der Vater ist Wirtschaftsprofessor an der Universität Lausanne. Beruflich beschäftige er sich intensiv mit dem Bildungswesen und dem Arbeitsmarkt, sagt er. Mit der Kritik steht Vogel nicht alleine da. Er empfinde den Inhalt dieses Artikels sehr befremdend, schrieb ein Primar- und Seklehrer dem Zürcher Mittelschulamt in einem E-Mail, das der Redaktion vorliegt. Dies sowohl aus Sicht der Eltern, Lehrpersonen und schulischen Heilpädagogik. «Es hätte sicherlich geeignetere Texte für psychisch/mental fragile 11-/12-Jährige gegeben.»

«Das ist absolut schockierend»

Auch in den Kommentaren zum Post hat der Prüfungstext eine Welle der Empörung ausgelöst. «WTF (mir kommt keine andere Reaktion in den Sinn und ins Herz). Worauf genau bereiten ‹wir› unsere nächste Generation zu? Leben oder Tod? Krieg oder Frieden? Liebe oder Hass?», schreibt ein User etwa.

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«Das ist absolut schockierend. Wer auch immer diesen Text auswählte, sollte sich zutiefst schämen!», doppelt jemand nach. Ein weiterer Kritiker bezeichnet das Textthema als «absolut beängstigend». Besser sei, mit jungen Gemütern über fröhliche und gute Zeiten zu sprechen als über Suizid.

Das Mittelschul- und Berufsbildungsamt verteidigt die Textwahl. Im Text stehe das Verhältnis zwischen Vater und Sohn im Mittelpunkt, schreibt das Amt auf Anfrage. «Sie erleben auf einer Brücke zu zweit einen Moment des Glücks und merken, wie gern sie einander haben.» Diese tiefe Liebe einer Vater-Sohn-Beziehung sei auch ausschlaggebend für die Fachkommission, den Text zu wählen, da sie selten literarisch thematisiert werde. «Die Fragen, die zum Text gestellt werden, sind sachlich und werden gestellt, um Grammatik, Wortschatz und Textverständnis abzufragen.»

Originaltext komme in Prüfung nicht vor

Laut dem Amt wurde «Die Brücke» im Rahmen der Prüfungserstellung bearbeitet und an das Zielpublikum angepasst. Der Ausschnitt in Peter Vogels Post stamme aus dem Originaltext und komme so nicht in der Prüfung vor, sondern deutlich gekürzt und angepasst.

Auch macht das Amt darauf aufmerksam, dass die Prüfungsaufgaben für die Zentrale Aufnahmeprüfung einen mehrstufigen Prozess durchliefen. In diesem Fall habe die Fachkommission Deutsch die Aufgaben erstellt. «Die Fachkommissionen bestehen aus erfahrenen, aktiven Maturitätslehrpersonen und Volksschullehrpersonen.» Die Fachkommissionen legten die Prüfungen der Begutachtungskommission zur Prüfung vor. Die Begutachtungskommissionen bestünden in der Regel aus mindestens einer aktiven Fachlehrperson der Maturitätsschulen und mindestens einer aktiven Fachlehrperson der Volksschule.

veröffentlicht: 6. März 2024 06:58
aktualisiert: 6. März 2024 23:24
Quelle: ZüriToday

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