Neuanfang in Zürich

«Ich vermisse Menschen, keine Dinge» – Ukrainerinnen erzählen von ihrem neuen Leben

25.03.2023, 07:42 Uhr
· Online seit 25.03.2023, 06:56 Uhr
Anastasiia und Olena Ivanova zählen zu den über 75’000 Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine in die Schweiz geflüchtet sind. Wie sie Zürich und die Schweizer Bevölkerung erleben und was sie sich für die Zukunft wünschen, erzählen sie im Interview.

Quelle: CH Media Video Unit / Linus Bauer

Anzeige

Anastasiia ist 31 Jahre alt und wohnt in Zürich. Anastasiia ist Ukrainerin. Sie wuchs in der Stadt Dnipro auf und lebte bis vor einem Jahr in Kiew. Als der Krieg in ihrer Heimat losbrach, besuchte sie gerade Freunde in Frankfurt und kam dann in die Schweiz. In ihrer Heimat war sie seither nicht mehr.

Etwa zehn Tage nach Anastasiia kam auch ihre Mutter Olena in die Schweiz. Erst wollte sie ihre Heimat nicht verlassen. Das bedeutete nämlich, ihren Mann und ihren Sohn mitsamt dessen Kindern zurückzulassen. Anastasiia erzählt, dass sie auf ihre Mutter einreden musste: «Du musst dort weg. Hier ist es sicher», erzählt sie. Irgendwann hielt es Olena nicht mehr aus.

All die Sirenen und der Stress wurden zu viel. Sie entschied sich für die Flucht. Sie sagte zu ihrem Mann: «Wir sehen uns bald wieder.» Das war bis zum heutigen Tag nicht möglich.

Eine lange Reise und eine riesen Veränderung

Der Anfang war schwierig, erzählt Olena. Drei Tage war sie unterwegs. Über Polen und Deutschland kam sie dann endlich in der Schweiz an. Ihre Stimme zittert, als sie im Interview mit ZüriToday über diese Zeit spricht. Ein neues Land, eine neue Sprache, alles war anders von einem Tag auf den anderen.

Anastasiia hatte bereits einen Freund in der Schweiz, der sie mit seinen Freundinnen und Freunden bekannt machen konnte. So fanden Mutter und Tochter auch Menschen, die bereit waren, sie für einige Monate aufzunehmen.

Olena ging es nach der Reise und nach allem, was passiert war, gesundheitlich nicht gut. In der Schweiz angekommen, machte ihr auch die Sprache zu schaffen. Anders als ihre Tochter spricht sie kein Englisch.

Mit Offenheit und Wärme empfangen

Allgemein wurden sie in Zürich herzlich aufgenommen. Sie beschreiben die Menschen als einfühlsam und fürsorglich. «Wenn Leute hören, wo wir herkommen, fragen sie uns, wie es uns geht und ob unsere Familie okay ist. Das ist Balsam für die Seele», erzählt die junge Frau. Mittlerweile haben beide auch Freunde gefunden.

Etwas, was sie an Zürich und der Schweiz nicht mögen, gäbe es eigentlich nicht. «Hier wirkt einfach alles ein wenig wie ein Regenbogen, als gäbe es keine Probleme, das ist ein riesen Kontrast!»

Am meisten vermisst die 31-Jährige ihre ukrainischen Freunde. «Ich vermisse keine Orte oder Dinge, aber die Menschen. Ich vermisse Seelen.»

Zerstörte Heimat und zurückgebliebene Menschen

Ihre Mutter vermisst vor allem ihren Mann, ihren Sohn und ihre Enkel. Die Männer mussten in der Ukraine bleiben, da sich die Flucht für Männer extrem schwierig gestaltet. Daran zu denken, treibt ihr die Tränen in die Augen. Beide bereuen, dass sie bestimmte Plätze und historische Orte nicht mehr besuchen konnten und auch nie mehr sehen werden – es ist alles zerstört. «Ich kann meiner Tochter so vieles aus unserer Heimat nicht mehr zeigen, es ist weg», erklärt Olena.

In der Ukraine arbeiteten beide als Künstlerinnen und Malerinnen. Olena unterrichtete Kunst an einer Kunstschule in Dnipro. Auch Anastasiia ist leidenschaftliche Künstlerin, unterrichtete an einer Kunstschule in Kiew und betreute viele Projekte in beiden Städten. Nicht alle Familienmitglieder seien Künstler, erzählt Anastasiia. «Zwei sind genug, glaub mir. Das ist teilweise schon zu viel», sagt sie und lacht.

Ihr Wunsch wäre es, in der Schweiz ebenfalls ihrer Leidenschaft nachzugehen. Das gestaltet sich schwierig. Unter anderem, weil das ganze Material hier so teuer sei. Über ihre Webseite versuchen die beiden sich sichtbar zu machen und ihre Kunst zu präsentieren. Ihre Mutter würde sich wünschen, auch hier wieder unterrichten zu können, sobald sie fliessend Deutsch gelernt hat.

«Schweizerdeutsch hat keine Logik»

Bei der Frage, was denn Ukrainerinnen und Ukrainer von der Schweizer Bevölkerung unterscheidet, sind sich beide schnell einig. «Wir sind ein sehr direktes Volk und sagen, was wir denken. Schweizer sind zwar immer sehr freundlich, man weiss aber manchmal nicht, was sie wirklich denken», erzählt die junge Frau.

Und Schweizerdeutsch? «Das hat absolut keine Logik!», sagt sie und lacht. Es sei eine sehr eigene Sprache. Welches Wort sie auf Schweizerdeutsch kann? Natürlich: «Chuchichästli», sagt sie, ohne gross zu überlegen. Klassiker.

Das sei mit das Erste gewesen, was ihr ihre Schweizer Hosts beigebracht hätten. «Wenn du dieses Wort kannst, kannst du Schweizerdeutsch», hätten sie ihr gesagt. Naja. Was es bedeutet, weiss sie natürlich auch. «Ein Gestell in der Küche oder?», voilà.

Malen, ausstellen – leben

Wenn sie ihre Kunst hier ausstellen könnte, würde ihr das viel bedeuten. Sie ist stolz, Ukrainerin zu sein und will ihre Herkunft mit ihrer Kunst den Menschen näherbringen.

Ihre Mutter malt auch Bilder, die vom Krieg in ihrer Heimat handeln. Das Problem sei, dass die Menschen Projekte mit harten und traurigen Inhalten nicht wirklich unterstützen. Die Leute wollen schöne, farbige Bilder. Früher hat sie viel mit Farben gearbeitet. Jetzt nicht mehr.

Nachdem der Krieg losgegangen war, fing sie an, das Erlebte in ihren Werken festzuhalten und ihre Gefühle zu transportieren. Sie möchte den Schweizerinnen und Schweizern mitgeben, dass diese sich glücklich schätzen können, dass sie so etwas nicht erleben müssen. Frohe Bilder zu malen, wenn es in ihr ganz anders aussieht, wäre falsch. «Das wäre nicht ehrlich, das wäre nicht sie», sagt die Tochter.

Es muss weitergehen

Wie die Zukunft aussieht, wissen beide noch nicht. «Wir wissen nicht, wann es vorbei ist. Wir wissen nicht, was mit unserem Haus ist, es ist alles ungewiss», erklären die beiden. Alles wieder instand zu setzen, werde Jahre dauern. «Wir müssen weitermachen, wir lernen Deutsch und wir müssen versuchen, uns hier ein Leben aufzubauen», sagt Anastasiia und atmet schwer.

In den Deutschunterricht gehen beide. Für sie ist es wichtig, die Sprache zu lernen und sie sind dem Schweizer Staat dankbar, dass sie die Möglichkeit dazu haben. «Es ist schwer, aber wir schaffen das», ist sich die junge Frau sicher. Wenn es ums Thema Hausaufgaben geht, sei ihre Mutter aber fleissiger als sie, sagt Anastasiia und lacht.

Scan den QR-Code

Du willst keine News mehr verpassen? Hol dir die Today-App.

veröffentlicht: 25. März 2023 06:56
aktualisiert: 25. März 2023 07:42
Quelle: ZüriToday

Anzeige
Anzeige
zueritoday@chmedia.ch