Junger Zürcher erzählt

Geflüchtete aufgenommen: «Ich merkte, wie aufgewühlt sie ist»

15.03.2022, 13:02 Uhr
· Online seit 15.03.2022, 11:46 Uhr
Derzeit kommen viele Geflüchtete aus der Ukraine am Zürich HB an und wissen nicht, wo sie die kommende Nacht verbringen können. Marcel aus Zürich erzählt uns, wie er einer jungen Ukrainerin fünf Tage lang einen Unterschlupf bot.
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Mittwochnachmittag am Zürich HB. Eine junge Ukrainerin steht mit wenig Gepäck vor dem Infoschalter beim Gleis 15 und lässt ihre müden Augen immer wieder in die Ferne schweifen. Es scheint so, als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Plötzlich keimt in ihren traurigen Augen Erleichterung auf. Ein junger Zürcher winkt kurz und geht dann etwas zögerlich auf sie zu. Er ist 29 Jahre alt und heisst Marcel. Die beiden haben sich noch nie zuvor gesehen.

«Das ging alles sehr schnell»

Die gleichaltrige Ukrainerin kennt nur sein Profil auf der Website «host4ukraine». Dort hatte Marcel am Freitag zuvor sein Gästezimmer für Bedürftige aus der Ukraine zur Verfügung gestellt. Drei Tage später schrieb sie ihn an und fragte, ob sie bei ihm übernachten kann. «Das ging alles sehr schnell.» Doch für Marcel war sofort klar: Er und seine Partnerin nehmen die Ukrainerin bei sich auf. So lange wie nötig.

An die erste Begegnung kann sich der junge Zürcher noch sehr gut erinnern. «Die Situation war sehr speziell. Die Frau bedankte sich oft bei uns. Doch ich merkte ihr an, dass sie vom Erlebten gezeichnet und mitgenommen war.» Marcel beschreibt die Frau beim ersten Treffen als dankbar, aber distanziert. In der 3.5-Zimmer-Wohnung angekommen, muss sich die Ukrainerin erst einmal auf dem Klappbett im Gästezimmer von den Reisestrapazen erholen. Für ihn ist sofort klar: Sie braucht nun Zeit für sich.

Vom normalen Leben zum Albtraum

Fragen stellen Marcel und seine Partnerin bewusst keine. «Wir wollten sie nicht noch weiter in Gedanken reinreiten.» Sie bieten ihr aber ein offenes Ohr an, falls sie etwas loswerden will. Es fühle sich sowieso alles falsch an, was man sagt. «In dieser Situation wirkte alles so pro forma», rekapituliert Marcel.

Obwohl Marcel und seine Partnerin oft arbeiten, bekommen sie doch einiges von ihrem temporären Gast aus der Ukraine mit. «Wir merkten, wie aufgewühlt sie war. Ihre Grundstimmung war eher traurig.» Immer wieder seien aber auch andere Gefühle hochgekommen. «Wir nahmen nicht nur Trauer, sondern auch Frust, Sorge um ihre Angehörige und Ärger, was da passiert, wahr».

Über die Flucht wurde nie gesprochen

Vor einem Monat lebte die junge Frau noch ein ganz normales, ruhiges Leben. «Sie war eine junge Person, wie Du und Ich.» Ihre Freunde und Familie um sich, guter Job, eigene Wohnung. Nun ist sie plötzlich auf das Klappbett von einem Fremden angewiesen. Und dessen harte Matratze ist für sie noch das kleinste Übel. «Als ich eines Abends nach Hause kam, war sie noch wach und kam wegen der schrecklichen Bilder im Kopf nicht zur Ruhe.» So spricht sie mit Marcel über viele Dinge, die ihr den Schlaf rauben. «Das ging mir schon sehr nah», so Marcel.

Über etwas sprach die Ukrainerin mit Marcel jedoch nie. «Über die Flucht weiss ich sehr wenig. Aber da habe ich auch nicht nachgefragt.» Die Ukrainerin ist hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. So kümmert sie sich darum, wie sie den S-Ausweis bekommt, wo sie hin muss und wo sie die nötigen Infos erhalten würde. «Ich habe ihr schon auch ab und zu geholfen. Jedoch war sie deutlich besser informiert als ich.»

«Türen stehen jederzeit offen»

Laut Marcel funktionierte in diesem Fall der Informationsfluss sehr gut. Kurze Zeit später kann die junge Ukrainerin den S-Ausweis in der Schweiz beantragen. Daraufhin bekommt sie ein Hotelzimmer in Oerlikon, wo sie Essen bekommt und etwas mehr Privatsphäre erhält. Ob sie nochmal zurückkommt, ist aber ungewiss. «Sie meinte, dass sie womöglich irgendwann wieder auf unser Klappbett angewiesen ist. Bei uns stehen die Türen jederzeit offen für sie.»

Am Ende waren es nur fünf Tage. Fünf prägende Tage auch für Marcel. Ein junger Zürcher, der seinen Beitrag leisten wollte. Er würde es sofort wieder tun. «Es waren zwar nur fünf Tage. Aber sie hätte auch ein Jahr bei uns bleiben können.» Diese Begegnung hat Marcel wieder einmal aufs Neue aufgezeigt, wie verschwindend klein gewisse Alltags-Probleme als junger Zürcher sind.

veröffentlicht: 15. März 2022 11:46
aktualisiert: 15. März 2022 13:02
Quelle: ZüriToday

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