Geflüchtete Ukrainerin

«Bei der Arbeit sprechen wir nicht über den Krieg»

· Online seit 10.06.2022, 06:50 Uhr
Viola Tarayuk ist eine von rund 400 Geflüchteten aus der Ukraine, die bisher im Kanton Zürich eine Arbeitsbewilligung erhalten haben. Ob ihre Wohnung in der umkämpften Region Donbass noch steht, weiss sie nicht. Mit ihrer Arbeit in einem Haarsalon in der Zürcher Innenstadt will Viola das Leben ihrer Kinder hier aber so normal gestalten wie möglich.
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Die vielen Pflanzen in dem Salon gleich neben der Bäckeranlage im Kreis 4 stechen als Erstes ins Auge. In allen Farben und Formen füllen sie den kleinen, überstellten Raum mit grün. Viola begrüsst mich schüchtern und steuert mich schnell zu einem der schwarzen Sessel. In gebrochenem Englisch erklärt sie mir, ich soll mich zurücklehnen, sie wasche mir gleich das Haar. Zuvor hatte ich ihr mit einer Handbewegung gezeigt, wie viel ich abschneiden möchte.

Beim Waschen spricht Viola nicht viel, sie fragt nur immer wieder leise, ob die Temperatur so gut sei. Erst als sie die Schere in die Hand nimmt und mit dem Schneiden beginnt, merke ich, wie sie sich entspannt. Ich frage, wie lange sie jetzt schon in dem Salon in Zürich arbeitet. «Drei Wochen», sagt sie. «Ich habe viel ukrainische Kundschaft – wir alle sind jetzt lange genug hier, dass unser Haaransatz wieder gefärbt werden muss und unsere Haarspitzen langsam ausfransen.»

«Ich wusste nicht, dass der Krieg angefangen hat»

Viola ist mit ihren vier Kindern aus ihrer Heimat im Donbass erst nach Polen geflüchtet, dann in die Schweiz. «Ich erfuhr von meiner Tochter, dass der Krieg angefangen hat», sagt sie und lacht dabei sogar ein wenig. «Ich hatte sie einfach in die Schule geschickt.» Ihre Tochter habe ihr an dem Tag im Februar erklärt, dass die Schule ausfalle wegen des Kriegs. «Ich wusste nicht, wovon sie redete. Erst als ich den Fernseher anmachte, fing ich an zu verstehen.»

Es verging nicht viel Zeit, bis der Krieg auch vor Violas Haustür angekommen war. «Ich hörte Bomben einschlagen, als ich draussen unterwegs war. Dann wurde mir klar, dass ich nicht in meiner Heimat bleiben kann.» Sie schneidet eine Strähne nach der anderen, immer wieder setzt sie sich dazwischen auf einen Hocker, um meine Fragen ausführlich zu beantworten. Erst sei sie mit ihren Kindern immer wieder in einen Bunker geflüchtet, doch dann sei das ständige Leben in Angst untragbar geworden. «Ich wollte meine Kinder einfach nur in Sicherheit bringen.» Also flohen sie erst nach Polen. «Als ich von Freunden hörte, dass auch Polen bald nicht mehr sicher sein würde, machte ich mich im Internet auf die Suche nach anderen Möglichkeiten.»

Im Salon ist der Krieg kein Thema

«Rückblickend weiss ich nicht, wie ich vor lauter Angst überhaupt noch klar denken konnte.» Sie schüttelt den Kopf. «In den sozialen Medien stiess ich auf eine Frau, die für mich alles organisierte – den Weg in die Schweiz, ein erstes Zuhause in Zürich für mich und meine Kinder, einfach alles.» Mittlerweile lebt die alleinerziehende Mutter mit ihren Kindern in einer Wohnung einer Alterssiedlung in Richterswil. Ihre grösste Sorge sei jetzt ihr Vater, der nach wie vor im Donbass lebt. «Ich schreibe ihm jeden Morgen, um zu fragen, ob es ihm gut geht. Jeden Tag danke ich Gott, wenn ein Lebenszeichen zurückkommt.»

Violas Chef, der Inhaber der Salons, setzt sich zu uns, während Viola Strähne um Strähne weiterarbeitet. «Ich spreche mit ihr nicht über den Krieg. Sie liest die Schlagzeilen jeden Tag, sie hört jeden Tag, was alles zerbombt wird. Hier im Salon will sie arbeiten und lernen. Und genau das will ich ihr ermöglichen.» Der Australier, der sich als «Pos» vorstellt, hatte auf Social Media geteilt, dass er ukrainischen Geflüchteten Arbeit geben wolle. Viola habe sich umgehend gemeldet. Einige Wochen später sei sie mit der Arbeitsbewilligen im Salon gestanden. Seit da sei sie ein Teil vom Team – so lange, bis sie zurück nach Hause kann.

«Wir leben jetzt eben hier weiter»

Viola streckt mir einen Spiegel entgegen und zeigt mir ihr fertiges Werk aus verschiedenen Perspektiven. «Ich liebe meine Arbeit», sagt sie, nachdem ich ihr ein Kompliment mache. «Das ist auch ein Grund, wieso ich in der Schweiz so schnell wieder Haare schneiden wollte. Ich möchte weitermachen und mehr Erfahrungen sammeln.» Vor allem wolle sie aber Normalität in die Leben ihrer Kinder bringen. «Mama geht arbeiten, die Kinder können in den Kindergarten und in die Schule. Sie sollen einfach Kinder sein, das ist mein Wunsch.» Als ich sie frage, wie sie vor den Kindern stark bleibt, schüttelt sie den Kopf und ihre Augen beginnen zu glänzen. «Ich muss», meint sie nur.

Während zahlreiche geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer bereits wieder den Weg nach Hause auf sich genommen haben, weiss Viola nicht, wann sie mit ihren Kindern wieder in ihre Heimat zurückkehren kann. Die Einnahme der Donbass-Region ist laut russischen Angaben Priorität des Kremls. Zahlreiche Gebiete sind bereits eingenommen worden, viele weitere sind hart umkämpft. Die Unsicherheit sei schwierig für sie, sagt Viola. Aber sie macht einfach weiter. Ihre Kinder besuchen den Kindergarten, ihre älteste Tochter wird nach dem Sommer in eine reguläre Schulklasse eingegliedert. «Wir leben jetzt eben hier weiter, bis es zu Hause wieder sicher ist für uns.»

veröffentlicht: 10. Juni 2022 06:50
aktualisiert: 10. Juni 2022 06:50
Quelle: ZüriToday

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