Proteste

Was passiert gerade in Israel?

· Online seit 27.03.2023, 12:50 Uhr
Massenproteste, ein drohender Generalstreik und die Armee in Alarmbereitschaft: In Israel kriselt es seit Monaten. Die Lage spitzt sich zu – das sind die Hintergründe.
Anzeige

In Israel hat sich die politische Krise nach der Entlassung des Verteidigungsministers Joav Galant wegen dessen Kritik an einer höchst umstrittenen Justizreform dramatisch zugespitzt. Zehntausende Menschen strömten in der Nacht auf Montag in Tel Aviv auf die Strassen, um gegen die von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angeordnete Entlassung und die Reformpläne seiner rechts-religiösen Regierung zu protestieren. Dabei kam es zu gewalttätigen Zusammenstössen mit der Polizei, die Wasserwerfer und Reiterstaffeln einsetzte.

Was will die Justizreform?

Die Regierung wirft dem Höchsten Gericht unrechte Einmischung in politische Entscheidungen vor. Künftig soll das Parlament mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufheben können. Der Ministerpräsident soll stärker vor einer Amtsenthebung geschützt werden.

Der Einfluss des Höchsten Gerichts würde damit beschnitten und die Machtposition der Regierung zulasten der unabhängigen Justiz gestärkt.

Wer ist dafür, wer dagegen?

Israels Präsident Izchak Herzog hat zum Stopp der umstrittenen Justizreform aufgerufen. «Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort einzustellen», sagte Herzog am frühen Montagmorgen an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sowie alle Koalitionsmitglieder gerichtet. «Die Menschen sind von tiefer Angst ergriffen.» Die Sicherheit, die Wirtschaft, die Gesellschaft - alles sei bedroht. «Die Augen des ganzen Volkes von Israel sind auf Sie gerichtet».

Mehrere Minister, die bei dem Krisentreffen in der Nacht zu Montag nicht dabei gewesen sein sollen, kündigten ihre Unterstützung für einen einstweiligen Stopp des Gesetzgebungsverfahrens an, falls sich Netanjahu dazu entscheiden sollte.

Das Ziel des Reformvorhabens sei zwar richtig, der Weg dorthin aber zu überdenken und «keinen Bürgerkrieg wert», zitierte die «Jerusalem Post» Wirtschaftsminister Nir Barkat. Kulturminister Miki Sohar erklärte demnach: «Die Reform des Justizsystems ist notwendig und wichtig, aber wenn das Haus brennt, fragt man nicht, wer Recht hat, sondern kippt Wasser in die Flammen und rettet die Bewohner.»

Was sind die Gefahren?

Der bisherige Verteidigungsminister Galant hatte am Samstagabend die Regierung zum Dialog mit Kritikern aufgerufen. Er warnte, dass die nationale Sicherheit und insbesondere die Einsatzfähigkeit der Armee auf dem Spiel stehe. Seit Wochen ist von wachsendem Unmut im Militär die Rede, aus Protest gegen die Reform waren zahlreiche Reservisten nicht zum Dienst erschienen.

Kritiker sehen die Gewaltenteilung bei der Justizreform in Gefahr, manche warnen gar vor der schleichenden Einführung einer Diktatur.

Der ehemalige Ministerpräsident Naftali Bennett warnte, Israel befinde sich in der grössten Gefahr seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Arabische Staaten hatten Israel damals überraschend am höchsten jüdischen Feiertag angegriffen. Bennett rief Netanjahu dazu auf, die Entlassung Galants zurückzunehmen, die Reform auszusetzen und einen Dialog mit den Gegnern aufzunehmen.

Wie reagiert die Bevölkerung?

Auf den Strassen bricht sich der Zorn vieler Menschen Bahn, die um die Demokratie in Israel fürchten. Nachdem dort am Samstag schon 200'000 Menschen zusammengeströmt waren, blockierten am Sonntagabend in Tel Aviv zahllose Demonstranten mit Israel-Fahnen die zentrale Strasse nach Jerusalem und setzten Reifen in Brand. Die Polizei ging mit Reiterstaffeln und Wasserwerfern gegen die Menge vor, aus der Steine auf die Einsatzkräfte flogen. In Jerusalem durchbrachen wütende Menschen eine Strassensperre neben Netanjahus Wohnhaus, der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet begab sich noch in der Nacht dorthin.

Universitäten verkündeten aus Protest gegen die Entlassung Galants und die Reformpläne einen vorläufigen Unterrichtsstopp. Mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik und forderten eine sofortige Eindämmung der nationalen Krise. Der Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut) setzte für Montag eine Pressekonferenz an, allem Anschein nach zur Ausrufung eines Generalstreiks.

Was ist die Reaktion international?

Auch international lösen die Pläne Kritik aus. Die US-Regierung als wichtigster Verbündeter äusserte sich tief besorgt. Angesichts der geplanten «grundlegenden Änderungen an einem demokratischen System» rief das Weisse Haus die israelische Führung nachdrücklich auf, so bald wie möglich einen Kompromiss zu finden.

Sicherheitsexperten warnen, Feinde Israels - allen voran der Iran, die libanesische Hisbollah-Miliz sowie militante Palästinenserorganisationen im Gazastreifen - könnten die Gunst der Stunde für Angriffe auf das durch die Krise geschwächte Land nutzen.

Wie geht es weiter?

Ungeachtet der Proteste hatte am Montag ein Kernelement der umstrittenen Reform eine weitere Hürde genommen. Der Justizausschuss des Parlaments billigte den Gesetzestext, der die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses ändern soll. Der Entwurf wurde zugleich zur finalen Lesung ans Plenum überwiesen. Die Gesetzesänderung würde der Regierung eine Mehrheit in dem Gremium und damit einen erheblichen Einfluss auf die Ernennung von Richtern verschaffen.

Netanjahu plante für Montagmorgen eine Rede an die Nation. Der israelische Regierungschef hatte mehrfach angekündigt, das Gesetzesverfahren nicht verlangsamen zu wollen. Aufgrund von Streitigkeiten innerhalb der Koalition ist es (bisher) noch nicht zu dieser Rede gekommen.

(sda/hap)

veröffentlicht: 27. März 2023 12:50
aktualisiert: 27. März 2023 12:50
Quelle: Today-Zentralredaktion

Anzeige
Anzeige
zueritoday@chmedia.ch