Science Fiction

Warum die erste Atombombe eigentlich über Paris explodierte

· Online seit 15.10.2022, 14:19 Uhr
Viel wird in diesen Tagen über den Einsatz von Atombomben gesprochen. Science-Fiction-Autoren befassten sich schon Jahrzehnte vor dem ersten Abwurf einer solchen Bombe mit der nuklearen Vernichtung, ihren Konsequenzen und der Verhinderung eines Atomkrieges. Dabei kamen sie zu überraschenden Erkenntnissen.
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Die erste Atombombe liess H. G. Wells über Paris detonieren. Ein «blutroter Feuerball» brach über die Stadt herein und verwandelte sie in eine «Kraterlandschaft». Nun hielt die Franzosen nichts mehr zurück, nach Berlin zu fliegen und es den Deutschen «mit gleicher Münze heimzuzahlen». Bald jagte ein «atomgetriebenes Flugzeug lautlos wie ein tanzender Sonnenstrahl» über die Wolkenbänke direkt in das «Herzen der mitteleuropäischen Feinde», schreibt die «Neue Luzerner Zeitung».

Nachdem der Pilot das Zeichen gegeben hatte, hob der Schütze mit beiden Händen die «Atombombe», eine schwarze Kugel mit einem Durchmesser von siebzig Zentimetern, hoch. Gezündet wurde sie wie eine Handgranate. Ein Knopf musste mit den Zähnen gelockert werden, um die Zündvorrichtung zu aktivieren. Der Schütze blickte «aus dem Flugzeug, schätzte Geschwindigkeit und Entfernung, beugte sich blitzschnell vor, löste die Sperre mit den Zähnen und warf die Bombe ab».

1914 – Geburtsjahr der Atombombe

Die Atombombe hat viele Väter. Der Schriftsteller H. G. Wells ist einer von ihnen. 1914 war er der erste, der den Begriff «Atombombe» («atomic bomb») in seiner Geschichte «Befreite Welt» verwendete. Er lieferte in der Erzählung - die nie die Bekanntheit anderer Bücher wie «Die Zeitmaschine» oder «Krieg der Welten» erlangte - auch eine mehr oder weniger plausible physikalische Erklärung für die energetische Sprengkraft dieser neuartigen Bombe.

Die Radioaktivität war damals zwar schon bekannt, eine genau Vorstellung des Atomkerns hatte man aber noch nicht. Wells erkannte aber, dass sich daraus theoretisch eine Unmenge an Energie gewinnen liess. «1953», so schrieb der Science-Fiction-Autor, «wurde die erste auf Kernspaltung beruhende Maschine entwickelt und ersetzte von da an die Dampfmaschine in Kraftwerken». Es war die Geburt des Atomzeitalters. Autos fuhren mit Atomantrieb, Flugzeuge folgen damit.

Für die Entwicklung der Atombombe bedurfte es eines weiteren Schrittes. Es brauchte ein Element, das schneller zerfällt und das durch seine Schwere mehr Energie freisetzt. Wells erfindet dafür «Carolinum». Es erinnert, so stellt der Physiker Erik Strub in einem 2005 erschienenen Fachartikel fest, «verblüffend» an Plutonium, jenem künstlichen chemischen Element, welches erst 1939 entdeckt wurde und den Weg zur Atombombe ebnete.

Wells entwarf seine Atombombe nicht im luftleeren Raum. Er baute auf den Überlegungen der Radioaktivitätsforscher William Ramsay, Ernest Rutherford und Frederick Soddy auf (letzterem widmete er sogar das Buch). Und gibt seinerseits Anstösse für die naturwissenschaftliche Forschung. Zu den begeisterten Lesern gehörte nämlich auch ein gewisser Leo Szilard. Der Physiker gab Albert Einstein und anderen Forscher wichtige Impulse für die Entwicklung Atombombe. Mit seinem Science-Fiction-Roman hat Wells also die Wissenschaft inspiriert und so die Atombombe mitentwickelt.

Die Logik des Unfassbaren

Doch die Literatur ist nicht nur Geburtshelferin der Bombe, die fiktionale Erzählung ist auch in jedem atomaren Drohszenario immanent. Nukleare Waffen sind strategische Waffen; sie dienen zur Machtdemonstration und zur Abschreckung, ohne dass sie tatsächlich eingesetzt würden. Damit sie den gewünschten Effekt haben, ist eine glaubhaften Droherzählung nötig. Dem Gegner muss klar gemacht werden, dass man bereit ist, die Waffen einzusetzen, wenn er sich nicht an die «Spielregeln» hält. Ihre reale Gefahr entfalten die atomaren Waffen erst in der Fiktion des Gegners. Das ist das grosse Paradox an der mächtigsten Waffe der Welt.

Der US-Nuklearstratege Herman Kahn nutzt Ansätze der Spieltheorie, um den Ablauf eines Atomkriegs aufzuzeigen. Um als Sieger aus dem Konflikt herauszugehen sind zwei Dinge wichtig: Man muss, erstens, dem Gegner aufzeigen, dass man tatsächlich gewillt ist, Atombomben einzusetzen («Das ist kein Bluff.» Putin). Und, zweitens, dass man genug atomare Waffen hat, wenn man Opfer eines Erstschlages geworden ist, noch immer zu einem vernichtenden Zweitschlag ansetzen zu können.

Stanley Kubrick hat die Schriften von Kahn genau gelesen und ihn in seinem Film «Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben» (1964) sogar verewigt. Die Figur des titelgebenden Doktors geht auf Kahn zurück. In Kubricks wunderbar schwarzen Satire löst ein amerikanischer General in Eigenregie ein Atomkrieg aus. Er ist einer Verschwörungstheorie der Sowjets aufgesessen und schickt deshalb ein mit einer Atombombe bestücktes Flugzeug nach Russland. Eine fiktiver Geheimplan ist Auslöser eines realen Atomkrieges.

Aus Spiel wird Krieg

Ein Mann mit zu viel Macht kann also über den Ausgang eines Atomkrieges bestimmen. Um die Schwachstelle Mensch zu eliminieren, wird im Film «War Games» (1983) der Abschussbefehl von Nuklearwaffen einem Computerprogramm übergeben. Tests haben nämlich gezeigt, dass längst nicht alle Menschen – aus moralischen Bedenken oder Überforderung – bereit wären, einen entsprechenden Befehl umzusetzen.

Ein Hacker dringt aus Versehen in das Programm ein, da er glaubt, es handle sich um ein Computerspiel und löst einen simulierten Erstschlag der Sowjets aus. Das Programm leitet unmittelbar reale Gegenmassnahmen der USA ein. Aus dem simulierten Spiel wird echter Krieg.

Der Film, der Reagan deprimierte

Während «War Games» und «Dr. Seltsam» die aus dem Zusammenspiel von Fiktion und Realität entstehende Dynamik thematisieren, die einen Atomkrieg auslöst, nimmt sich «Der Tag danach» (1983) dessen Folgen an.

Nachdem die USA ihr Arsenal an Atomraketen in Richtung Russland gefeuert haben, gehen über Amerika selbst 300 mit Atomköpfen bestückte interkontinental Raketen auf das Land nieder. Der Film zeigt die Atompilze, die Zerstörung und die Verstrahlung. Die Botschaft: Ein Atomkrieg lässt sich nicht gewinnen.

Der damalige Präsident Ronald Reagan zeigte sich, wie er später in seinen Memoiren schreibt vom Film tief beeindruckt und deprimiert. Der Film «Der Tag danach» hätte ihm zu einer neuen Sichtweise auf die nukleare Bedrohung verholfen. Er liess ihn in seinen weiteren Entscheidungen im Kalten Krieg defensiver agieren.

«Der Tag danach» steht exemplarisch für das Genre der Postapokalypse. Zu dem auch grandiose Werke zählen wie Philip K. Dicks «Nach der Bombe» (1965), Dmitri A. Gluchowskis «Metro 2033» oder die Computerspiel-Reihen «Fallout» (1997 bis 2018), in der das Leben auf einer verstrahlten Erde erlebbar gemacht wird. Das Leben nach einer atomaren Katastrophe haben sich Science-Fiction-Autoren in vielen unterschiedlichen Facetten ausgemalt und unter diversen Vorzeichen durchgespielt. Eher weniger haben sie sich damit beschäftigt, wie sich ein nuklearer Weltkrieg verhindern lässt.

Frieden auf Erden, Atombomben auf dem Mond

Umso herausragender ist deshalb Stanislaw Lems Roman «Frieden auf Erden» (1986). Der polnische Science-Fiction-Grossmeister skizziert darin einen raffinierten Plan, wie die nukleare Aufrüstung ihr Gefahrenpotenzial verliert, ohne dass die Atommächte zum Abrüsten gezwungen würden, denn letzteres - das zeigt die Realität bestens - würde ohnehin nicht funktionieren. Die Grossmächte haben sich im «Vierten Genfer Vertrag» darauf geeinigt, ihre gesamten Waffenarsenale auf den Mond zu verlagern.

Ein Atomkrieg durch eine zu rasch getroffene falsche Entscheidung aufgrund von falschen Informationen oder einer missinterpretierten Drohgebärde, ist damit ausgeschlossen. Dennoch kann jeder Zeit eine Supermacht ihre Nuklearwaffen auf die Erde holen, um Krieg zu führen. Allerdings fällt das auf, sodass die anderen das ihrige Arsenal ebenso zurückbringen werden. Es herrscht «die absolute Sicherheit jedes Staates vor einem Überraschungsangriff unter Wahrung des Rechts, Krieg zu führen, sofern das jemand wünscht».

Letzteres wird aber kaum jemand in Betracht ziehen, denn die Nuklearwaffen, die längst – auch hier war Lem seiner Zeit voraus - auf künstlicher Intelligenz basieren, entwickeln sich ständig weiter, können immer effektiver und ausgeklügelter töten. Allerdings weiss niemand, wie sich die eigenen Waffen im Verhältnis zu den anderen entwickelt haben, da der Erdtrabant nicht bereist werden kann, ohne die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft auf sich zu ziehen. Kein vernünftiger Stratege würde da seine Waffen zurückholen. Um den Mond mit seinen Nuklearwaffen hängt – um ein Terminus des Philosophen John Rawls zu verwenden - ein Schleier des Nichtwissens. Und es herrscht Frieden auf Erde.

(Raffael Schuppisser, Luzerner Zeitung)

veröffentlicht: 15. Oktober 2022 14:19
aktualisiert: 15. Oktober 2022 14:19
Quelle: Luzerner Zeitung

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