Besuch in Kiew

Deutschland und Frankreich machen sich für Ukraine in der EU stark

· Online seit 16.06.2022, 17:35 Uhr
Der lange erwartete Besuch von Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Mario Draghi in der Ukraine ist über die Bühne gegangen. Die Politiker waren sich einig: Die Ukraine gehört zu Europa. Zusagen zu weiteren Waffenlieferungen gab es nicht, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist trotzdem zufrieden.
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Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben sich erstmals dafür stark gemacht, dass die Ukraine ein Beitrittskandidat für die Europäische Union wird.

«Meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie», sagte Scholz am Donnerstag bei seinem lang erwarteten Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

EU ja, mehr Waffen jein

Macron ergänzte: «Auf jeden Fall unterstützen wir den Beitrittsstatus der Ukraine zur Europäischen Union.» Neben Macron begleiteten auch Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und der rumänische Präsident Klaus Iohannis den Bundeskanzler bei diesem Solidaritätsbesuch.

Scholz machte keine konkreten Zusagen für weitere Waffenlieferungen. «Wir unterstützen die Ukraine auch mit der Lieferung von Waffen, und wir werden das weiterhin tun, solange die Ukraine unsere Unterstützung benötigt», sagte er.

Am 113. Tag des Krieges begrüsste der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das klare Bekenntnis seiner Gäste: «Der EU-Kandidatenstatus könnte eine historische Entscheidung für Europa sein.» Die Ukraine hatte kurz nach dem Angriff Russlands am 24. Februar einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt.

Selenskyj stimmt versöhnliche Töne an

Scholz, Macron und Draghi waren gemeinsam über Nacht mit dem Zug angereist. Iohannis hatte eine andere Reiseroute gewählt. Selenskyj würdigte den Besuch von Scholz. Es würden Waffen geliefert, auch die gewünschten. «Hier hilft uns Deutschland sehr», sagte er. «Ja, ich bin überzeugt, dass das ganze deutsche Volk die Ukraine unterstützt.»

Macrons klare Aussage zum EU-Kandidatenstatus ist umso bedeutender, da Frankreich derzeit die wechselnde EU-Präsidentschaft inne hat. Draghi sagte bei der gemeinsamen Pressekonferenz: «Präsident Selenskyj hat verstanden, dass der Kandidatenstatus ein Weg ist und noch nicht das Ziel. Ein Weg, auf dem tiefgreifende Reformen notwendig sind in der ukrainischen Gesellschaft.»

Erste Schritte Richtung Beitritt könnten schon diese Woche folgen

Es wird erwartet, das die EU-Kommission in Brüssel am Freitag den Vorschlag machen wird, der Ukraine eine klare Beitrittsperspektive zu geben. Die EU-Staats- und Regierungschefs werden dann schon in der kommenden Woche auf ihrem Gipfel (23./24.) darüber beraten.

Die Entscheidung, ob die Ukraine Beitrittskandidat wird, muss einstimmig getroffen werden. Beitrittsverhandlungen sind kompliziert und dauern in der Regel Jahre.

Augenschein im zerstörten Kiew

Nach seiner Ankunft besuchte Scholz den teils zerstörten Kiewer Vorort Irpin. Ähnlich wie im benachbarten Butscha waren dort nach dem Rückzug der Russen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden worden. Scholz verurteilte die «Brutalität» des russischen Angriffskrieg und sprach von sinnloser Gewalt.

Iohannis verlangte erneut, dass Gräueltaten Russlands vor ein internationales Strafgericht gebracht werden. Draghi traut der Ukraine einen umfassenden Wiederaufbau zu. «Das hier ist ein Ort der Zerstörung, aber auch der Hoffnung», sagte Draghi in Irpin.

Russland spielt Besuch herunter

In einer ersten Reaktion redete Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew den Besuch klein. Die Politiker müssten mit dem Zug reisen wie vor 100 Jahren und stellten der Ukraine eine EU-Mitgliedschaft und «alte Haubitzen» in Aussicht, meinte Medwedew, der stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates ist. «Das ist alles gut. Aber es wird die Ukraine nicht näher in Richtung Frieden bringen.»

Am Tag vor der Ukraine-Reise des Kanzlers hatte das russische Staatsunternehmen Gazprom zum zweiten Mal kurz hintereinander die Gasliefermengen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland reduziert. Gazprom begründete diesen Schritt erneut mit Verzögerungen bei Reparaturarbeiten. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck vermutet dahinter hingegen eine politische Entscheidung.

Seit Mitte März sind zahlreiche Staats- und Regierungschefs in die Ukraine gereist. Dieser Besuch ist zweifellos der bedeutendste: Scholz, Macron und Draghi repräsentieren die drei bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten EU-Länder. Die drei Staaten gehören zur G7, in der sich demokratische Wirtschaftsmächte zusammengeschlossen haben. Deutschland hat in dieser Gruppe derzeit den Vorsitz.

(osc/sda)

veröffentlicht: 16. Juni 2022 17:35
aktualisiert: 16. Juni 2022 17:35
Quelle: Today-Zentralredaktion

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