WM im Winter, ein ultra-konservativer Wüstenstaat mit zumindest fraglichen Grundsätzen, tausende tote Arbeiter. Noch nie wurde im Vorfeld und während einer WM so viel diskutiert wie in Katar. Noch nie war ein Turnier so politisch geladen, war das, was neben dem Platz passiert, so viel wichtiger als das Geschehen auf dem Rasen. Kein einziges Spiel dieser verwerflichen WM werde ich schauen, hatte ich mir von Anfang an fest vorgenommen. Und blieb auch bis kurz vor Turnierende erstaunlich standhaft.
Ein #WM-Finale am #4Advent ist schon recht skurril.🤔
— Sandro Hess, Rheintal (@sandro_w_hess) December 18, 2022
Schaue ich oder schaue ich nicht?
Hier muss man erwähnen: Fussball, Champions League, Weltmeisterschaften. Für mich alles heilige Begriffe, der Sport ein riesiger Teil meines Lebens. Seitdem ich denken kann, spiele ich Fussball. Wenn der Herzensverein kickt, dann gibt es nichts anderes. Wenn die WM läuft, dann schaut man jedes Spiel, dann werden Duelle zwischen Südkorea und Kanada, zwischen der Elfenbeinküste und Schottland zum grandiosen, spannenden Zeitvertreib.
Enorm also meine Wut, dass mir die FIFA diese Spannung, dieses Erlebnis raubte. Dass man mir ein nicht vertretbares Turnier vor die Füsse warf. Dass man mir die ethische Entscheidung überliess: Schaue ich oder schaue ich nicht. Dass man mir meinen heiligen Fussball madigmachte.
Kylian Mbappé als (Un)Heilsbringer
Mit dieser Wut im Bauch und mit einer gespielten Gleichgültigkeit hockte ich dann gestern Abend bei Bekannten auf der Couch und am Ende tatsächlich noch vor dem Bildschirm. Versuchte den Gesprächen mit Freunden mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem eigentlichen Spiel. Froh darüber, dass die Franzosen zumindest die ersten 60, 70 Minuten komplett verschlafen hatten. Das Spiel ohne viel Emotion, ohne viel Qualität. Ein minderwertiger Abschluss eines Turniers, das es so nie hätte geben dürfen, hoffte ich. Doch es kam anders.
Als das Spiel schon so gut wie gelaufen schien, kam Kylian Mbappé und drehte auf. Und zwar so richtig. Zwei Tore innerhalb von zwei Minuten, ein grandioser Volley, das Finale wieder offen. Lionel Messi, der beste Fussballer aller Zeiten, mit dem erneuten Führungstreffer. Und trotzdem keine Entscheidung. Wieder einmal zeigte Mbappé Nerven aus Stahl. Dann nur wenige Minuten vor Schluss die 100-prozentige Chance für Kolo Muani, um sogar das 4:3 für Frankreich zu machen. Eine grandiose Parade des argentinischen Goalies verhinderte Muanis Aufnahme ins französische Nationalheldentum.
Wie kann dieses Finale echt sein?
— NiklasNeo (@niklasneo) December 18, 2022
Das ist auf allen Ebenen viel zu unglaublich.
Messi Masterclass bei seiner letzten WM, Mbappé Hattrick auf der Spur von Pelé. Das kannst du dir alles nicht ausdenken.
Und ich? Ich raufte mir die Haare, schrie, fluchte, war gefesselt. Kniete zwischenzeitlich gar auf dem Boden und konnte nicht fassen, was für ein absurd krankes Spiel da gestern inmitten der Wüste Fussballgeschichte schrieb. Vergessen waren all die guten Vorsätze, der Frust, die Wut. Auf einmal war da nur mehr die Freude am Sport, an Grätschen, Hakentricks, Elfmeterentscheidungen, kleinen Raufereien, nassem Gras.
Gemischte Gefühle nach Abpfiff.
— Oliver Wurm (@oliverwurm) December 18, 2022
Dankbar für dieses epische Finale.
Größten Respekt für alle, die den Protest gegen diese WM durchgezogen haben. Für euch hätte ich mir (ironiefrei) ein schlechteres Endspiel gewünscht. Weil ich weiß, dass ihr das Spiel als solches liebt.
🌈
Gänsehaut und Tränen
Dass Lionel Messi seine grandiose Karriere am Ende mit dem Weltmeister-Titel krönen durfte? Geschenkt. Dass Videos von hunderttausenden argentinischen Fans mit Freudentränen in den Augen auch bei mir für Gänsehaut sorgten. Verständlich. Dass ich die französischen Spieler, gefrustet, heulend, allesamt am liebsten in den Arm genommen hätte. Logo.
Quelle: CH Media Video Unit / Melissa Schumacher
Da war sie wieder diese unfassbare Kraft des Fussballs, die zum Glück – oder eben leider – nicht einmal das fragwürdige Gastgeberland und sein herrscherliches Gehabe brechen konnte. Bleibt nur eines zu hoffen: Dass diese Kraft des Sports nun auch die Allerletzten gespürt und verinnerlicht haben. Und dass das nächste Mal, wenn es um die WM-Vergabe geht, wieder besser hingeschaut wird. Deutlich lauter muss jeder Aufschrei, jede Kritik sein.
Dann dürfen wir künftig auch wieder bei Südkorea gegen Kanada oder der Elfenbeinküste gegen Schottland ohne schlechte Gewissen jubeln. Dann soll das Spiel wieder frei sein von politischer Propaganda, schmutzigen Deals, unwürdigen Kommentaren. Das sind wir dem Fussball, der sich gestern wieder in seiner absoluten Glanzform zeigte, schuldig. Er hätte es mehr als verdient.