Grenzüberschreitungen

Schweizer Unis registrieren Dutzende Fälle sexueller Belästigung

22.03.2023, 12:37 Uhr
· Online seit 22.03.2023, 06:00 Uhr
Von Belästigung mit Liebesbriefen über anrüchige Bemerkungen bis zu eindeutigen Einladungen: An Schweizer Hochschulen kommt es immer wieder zu sexuellen Belästigungen. Nun kämpfen die Hochschulen geschlossen gegen das Problem.
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Sexuelle Grenzüberschreitungen ziehen sich durch die ganze Gesellschaft – bis in den Elfenbeinturm hinauf. Schweizer Universitäten registrierten in den letzten Jahren Dutzende Fälle von sexueller Belästigung, wie eine Umfrage der Today-Zentralredaktion bestätigt.

Der Universität Bern werden aktuell pro Jahr rund zehn Fälle gemeldet. Die Universität erfasst die Anzahl Meldungen seit 2016. Damals waren es pro Jahr rund ein bis zwei Meldungen. «Seither gab es kontinuierlich etwas mehr Meldungen», stellt die Uni fest.

Die Universität Freiburg gibt auf Anfrage an, dass gemäss den Zahlen der Ombudsstelle in den letzten Jahren zwischen ein und fünf Fällen jährlich gemeldet wurden. Seit der Schaffung der Ombudsstelle Ende 2019 registriert sie 20 bis 30 Fälle. «Jeder Fall ist einer zu viel, vor allem wenn wir auch die Dunkelziffer einberechnen», sagt Mediensprecher Marius Widmer. An der Universität Basel kommt es jährlich zu rund sechs Kontaktaufnahmen betreffend sexueller Belästigung. Seit Herbst 2019 wurden insgesamt 20 Fälle registriert.

Fallzahlen haben zugenommen

An der Universität Zürich melden sich öfter Personen wegen sexueller Belästigung. Die Uni führt dies auf die zunehmende Sensibilisierung zurück, insbesondere Sensibilisierungs- und Informationsmassnahmen der Universität Zürich und teilweise auch auf die mediale Aufmerksamkeit im Rahmen der MeToo-Bewegung. Auch die Universität St.Gallen stellt aufgrund der verstärkten öffentlichen Diskussionen leicht zugenommene Fallzahlen fest. Beide Universitäten geben aus Datenschutzgründen keine Auskunft über die Anzahl Fälle.

Auch die ETH Zürich gibt keine Zahlen bekannt. «Tatsächlich melden sich sehr wenige Personen bei den Anlauf- und Beratungsstellen der ETH Zürich», sagt Mediensprecherin Franziska Schmid. Da es verschiedene Anlaufstellen für ETH-Angehörige gebe und die Meldungen vertraulich behandelt würden, sei es nicht möglich, eine konkrete Zahl zu nennen. «Aber aus ETH-Sicht ist klar: Jeder Fall ist einer zu viel!»

Zu Grenzüberschreitungen kommt es an den Unis sowohl zwischen Studierenden, zwischen Studierenden und Dozierenden als auch unter Angestellten. «Von dem Angestellten, der seine Kollegin nach einer gescheiterten Beziehung stalkt, über eine Studentin, die ihrem Professor gegen dessen Willen regelmässig Liebesbriefe schreibt, bis hin zur Belästigung in Abhängigkeitsverhältnissen, zum Beispiel durch einen Doktoranden oder einen Professor, können sexuelle Belästigungen verschiedenste Erscheinungsformen haben», sagt Professorin Brigitte Tag, Untersuchende Person in Fällen von sexuellen Belästigungen an der Universität Zürich.

Unerwünschte Körperkontakte

Als typische Fallbeispiele nennt die Universität Basel unpassende Bemerkungen in Vorlesungen, Anmache an sozialen Anlässen und Belästigung über Social Media. An der Universität Bern führten anzügliche Sprüche oder Bemerkungen, unerwünschte Körperkontakte und aufdringliches Verhalten zu Grenzüberschreitungen. Weitere Beispiele sind eine fehlende Abgrenzung zwischen Arbeits- und privatem Umfeld sowie wiederholte unerwünschte Einladungen mit eindeutiger Absicht, etwa bei Konferenzen und Feldforschungen.

Die Universität Freiburg bezeichnet Doktorierende aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses als grundsätzlich vulnerable Gruppe. So würden Doktorierenden gegenüber anrüchige und sexistische Bemerkungen geäussert, sagt Marius Widmer, Mediensprecher der Universität Freiburg. «Oder es werden per Mail sexistische Aussagen an Untergebene versendet.» Oft zögere in solchen Situationen das Opfer, ob es sich Hilfe holen solle und könne und suche bei sich selbst die Ursache für das Verhalten des anderen. «Das erschwert es zusätzlich, dass diese Fälle tatsächlich gemeldet werden.»

Ruf der Unis hinterlasse falsche Sicherheit

Die Universitäten haben in den letzten Jahren im Kampf gegen sexuelle Belästigung Reglemente umgesetzt sowie Programme und Anlaufstellen geschaffen. Die Hochschulen haben aber festgestellt, dass noch viel Handlungsbedarf besteht. Um das Bewusstsein für sexuelle Belästigung an den eigenen Institutionen zu erhöhen, haben sie gemeinsam den «Sexual Harassment Awareness Day» (siehe Box) ins Leben gerufen. Am 23. März findet er erstmals statt.

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Es sei wichtig, an den Unis ein Umfeld zu schaffen, das für alle Studierenden angenehm und von gegenseitigem Respekt geprägt sei, sagt Demian Tschanz, Vorstandsmitglied des Verbands der Schweizer Studierendenschaften (VSS). Der Ruf der Unis als Ort von «vornehmen und gebildeten Menschen» lasse die Gesellschaft in einer falschen Sicherheit wiegen, was gefährlich sei. «Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können auf ihrem Feld exzellent sein und trotzdem Übergriffe verüben.»

Riskante Abhängigkeit

Die klaren hierarchischen Strukturen an den Universitäten sind laut Demian Tschanz ein besonderer Risikofaktor für sexuelle Belästigung. «Studierende und Doktorierende sind abhängig von Dozierenden und Professorinnen und Professoren, womit ein erhöhtes Risiko für Machtmissbrauch einhergeht.»

Quelle: TeleZüri

Die temporären Arbeitsverhältnisse an den Hochschulen begünstigten Belästigungen zusätzlich, sagt Tschanz. «Hofft ein Opfer, dass sein Arbeitsvertrag verlängert wird, schreckt es eher davor zurück, eine Grenzüberschreitung zu melden.» Ebenso sähen Opfer von einer Meldung ab, mit dem Gedanken, dass sich das Problem von alleine erledige, sobald das befristete Arbeitsverhältnis der Täterin oder des Täters geendet habe. 

veröffentlicht: 22. März 2023 06:00
aktualisiert: 22. März 2023 12:37
Quelle: Today-Zentralredaktion

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