Akuter Lehrermangel

Lerncoach rühmt unqualifizierte Lehrpersonen

09.08.2022, 11:06 Uhr
· Online seit 08.08.2022, 16:42 Uhr
Der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz schlägt Alarm, weil viele Personen ohne Lehrerdiplom vor den Klassen stehen. Eine Lerncoachin blickt hingegen positiv auf die Situation. Das neue Personal könne den Stoff manchmal besser erklären.

Quelle: CH Media Video Unit / Melissa Schumacher

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Die Situation an den Schulen ist so gravierend, dass selbst die oberste Lehrerin der Schweiz emotional wurde. Sie als Mutter mache sich grosse Sorgen, sagte Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) an einer Medienkonferenz am Montag (siehe Video oben). «Wenn ich als Mutter erfahren würde, dass meine Tochter oder unsere Tochter zu einer Lehrerin kommt, die keine Ausbildung hat, dann weiss ich nicht, ob ich noch gut schlafen könnte.»

Rösler machte darauf aufmerksam, dass kurz vor den Sommerferien noch mehrere hundert Stellen offen gewesen seien. Deshalb müssten immer mehr Stellen mit nicht oder nicht ausreichend qualifiziertem Personal besetzt werden.

Im Kanton Bern etwa stehen laut Rösler zehn Prozent nicht adäquat ausgebildete Personen vor Klassen. Rösler bezeichnete diesen Zustand als alarmierend. «Denn das Unterrichten bedarf einer gründlichen Ausbildung.» Die Bildungsqualität bezeichnete sie als gefährdet.

«Bringen frischen Wind»

Es gibt aber auch Fachpersonen, die in der Entwicklung eine Chance sehen. Sie verstehe die Sorgen von Frau Rösler sehr gut, sagt Regula Röthlisberger, die in Stans im Kanton Nidwalden seit 22 Jahren als Lerncoach tätig ist. Diese Situation sei eine riesige Herausforderung für die Lehrpersonen und die Schulen. Doch sollten sie auch daran denken, dass Krisen Chancen seien. «Unausgebildete Lehrpersonen mit einem anderen beruflichen Hintergrund bieten eine gute Möglichkeit, frischen Wind in die Schulen zu bringen.» Natürlich müssten diese Menschen geführt und gestützt werden.

Röthlisberger beobachtet, dass Beziehungsarbeit bei klassisch ausgebildeten Lehrpersonen oft zu kurz kommt. «Ich habe das Gefühl, dass die Lehrerinnen und Lehrer den Bezug zu den Schülerinnen und Schülern zu wenig pflegen können, weil sie enorm unter Druck sind, leistungsorientiert unterrichten und, weil sie in der Ausbildung wenig über Persönlichkeitskompetenzen lernen.» Es gehe auch darum, den Lernenden die Beziehung zum Lernstoff zu ermöglichen: «Was bringt mir dieses Wissen? Was kann ich damit machen?»

«Einfacheren Zugang»

Einige Lehrpersonen hätten sich auch schon darüber beklagt, dass sie im Studium Beziehungsarbeit nicht gelernt hätten, sagt Röthlisberger. «Jemand, der jahrelang in einem ganz anderen Beruf gearbeitet hat, findet zu den Kindern beim Erklären vielfach einen natürlicheren Zugang.» Diese Erfahrung beobachte sie in Regelklassen mit einer Schulassistenz.

Auch aus fachlicher Sicht sieht die Lerncoachin Chancen. «In meinen Coachings muss ich den Kindern sehr oft Dinge anhand von Beispielen erklären, weil ihnen im Unterricht ein Thema zu theoretisch vermittelt wurde.» Personen ohne Lehrerqualifikation könnten oft einen direkteren Zugang zu einem Thema schaffen. «Sie erklären dann vielleicht gleich, warum der Lernstoff Sinn macht und sagen nicht einfach: ‹Ihr braucht das für eure Zukunft›.»

Neue Kommunikationsmuster

In Schulen vermisst Röthlisberger, dass Lehrpersonen den Lernstoff oft sehr auditiv ausgerichtet vermitteln. «Dabei ist es von der Neurowissenschaft erwiesen, dass das Lernen visuell, also auf Bildern basiert, leichter zu speichern und wieder abrufbar ist. Lernen und Lehren könnten einfacher sein.»

Die Lerncoachin ist überzeugt, dass Lehrpersonen aus anderen Berufen durch ihre Berufserfahrung automatisch neue, andere Kommunikationsmuster mitbrächten, was den Zugang zum Lernstoff für die Lernenden erweitern könne. «Am Anfang ist das Chaos. Äusserst herausfordernd ist es aber eine Chance, dass Lehrpersonen gemeinsam mit anderen Fachleuten eine ‹neue Schule› entstehen lassen, denn alle wollen das Beste für die Lernenden.»

veröffentlicht: 8. August 2022 16:42
aktualisiert: 9. August 2022 11:06
Quelle: Today-Zentralredaktion

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