Kreativ

Keramikboom: «Es gibt ein grosses Revival der Handwerkskunst»

27.05.2022, 11:16 Uhr
· Online seit 21.05.2022, 12:28 Uhr
Brad Pitt tut es, die Filmwelt hat es entdeckt, und die Kurse sind ausgebucht. Keramik – das Arbeiten mit Ton – erlebt derzeit einen Boom. Kein Wunder: Es ist gleichermassen sinnlich, kreativ wie auch technisch herausfordernd. Und wirkt wie Yoga.

Quelle: FM1Today/Angela Müller

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Der Tag auf der Redaktion ist hektisch und wie immer wird es knapp. Ich hetze zum Bahnhof St.Gallen, kaufe noch ein Brötchen, esse im Gehen und schleppe mich um 18 Uhr die Treppen hoch ins Atelier der Klubschule. Stress pur.

Meine Kolleginnen und unser Töpferlehrer Robert Wenk sind bereits da, stehen um den Tisch vor dem Brennofen und begutachten unsere letzten Werke. «So schön», sagt die Eventmanagerin. Die Informatikerin: «Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Farben so perfekt mischen.» Mein Töpfchen hingegen ist faszinierenderweise orange statt grün geworden. Bewunderung und Verwunderung.

In meiner Kursgruppe sind vier weitere Frauen, die alle aus den verschiedensten Berufssparten kommen, wir sind zwischen 25 und 60 Jahre alt. Und wir sind lange nicht die einzigen, die an der Migros Klubschule einen Keramikkurs belegen. «Handwerkskurse erleben derzeit ein Revival, sagt Susanne Sperlich, Leiterin Sparte Kreativität der Klubschule Migros Ostschweiz. Insbesondere Keramikkurse sind gefragt. «Das Material fasziniert. Arbeiten mit Ton ist sinnlich sowie gestalterisch und handwerklich anspruchsvoll.»

Wartelisten für Keramikkurse in St.Gallen

Bereits vor der Coronakrise hatte die Klubschule Migros in St.Gallen eine erhöhte Nachfrage festgestellt. «Der Trend hat sich von den urbanen Zentren, wie Zürich und Bern, in die Ostschweiz bewegt», sagt Sperlich. Inzwischen hat die Klubschule zwei weitere Kursleiterinnen verpflichten können. «Seit diesem Frühling haben wir unser Keramikkurs-Angebot erweitert und optimiert. Für die meisten Kurse bestehen Wartelisten», sagt Sperlich.

Hier im Kurs ticken die Uhren anders: kein Alles gleichzeitig, vielmehr Eines nach dem Anderen. Es geht zu den Gegenständen, die wir letzte Woche auf der Töpferscheibe gedreht haben. Sie stehen auf runden Holzbrettern und sind sorgfältig in Plastiksäcke verpackt. Wir wickeln sie aus, begutachten, schätzen, ob sie direkt abgedreht werden können, ob sie zu feucht oder zu trocken dafür sind. Die Hektik des Tages fällt langsam von mir.

Arbeiten mit Ton liegt im Trend

«Das Interesse ist gross und seit einiger Zeit nimmt es stark zu», sagt Robert Wenk. Er gibt seit 25 Jahr Keramikkurse. «Lange hat das kreative Arbeiten mit Ton eine Mauerblümchenrolle gespielt.» Doch das hat sich geändert. «Einige wollen einfach mal hereinschauen, andere bleiben über längere Zeit dran.»

Wenn Wenk an der Töpferscheibe sitzt, erhält die Entstehung einer Schale, eines Kruges oder Tellers eine verblüffende Eleganz, die uns Schülerinnen noch ziemlich fehlt. Und immer wieder muntert Wenk auf: «Es braucht sehr viel Übung.» Und: «Aus Missgeschicken können unter Umständen wunderbare Stücke entstehen.»

Das Drehen selbst ist jedoch nur ein kleiner Bestandteil eines langen Prozesses, Drehen, Abdrehen, Rohbrand, Glasur, Brand. Jetzt steht der erste Schritt an: Der Ton muss aufgearbeitet werden. Wir kneten ihn in die «Hundeschnauze», schneiden durch, suchen nach Luftblasen. Ich komme an, meine kreativen Pläne erscheinen vor meinem geistigen Auge. Ein vielleicht 20 Zentimeter hoher Zylinder? Und dann entscheide ich, ob es ein Krug oder eine Vase werden soll.

Hollywood-Stars mit eigenen Keramik-Ateliers

Der Keramik-Boom zeigt sich praktisch weltweit. Getöpfert wird auch in Hollywood: Schauspieler Brad Pitt soll sich seit Jahren künstlerisch mit Ton betätigen und wenn man den US-Klatschseiten Glauben schenken will, besucht ihn Leonardo DiCaprio gerne zum gemeinsamen Töpfern im Atelier. Auch Spiderman-Star Laura Harrier hat ihr eigenes Töpferstudio. Der Brite Josh O'Connor, der Prinz Charles in «The Crown» spielt, präsentiert auf Instagram laufend Werke von Keramik-Künstlerinnen und -Künstlern, die er bewundert. Gerade Grossbritannien kann auf eine lange und traditionsreiche Keramik-Geschichte zurückblicken.

Zurück ins Migros-Atelier in St.Gallen: Die Höhe ist die hohe Schule beim Töpfern, dafür braucht es richtig viel Übung. Nach knapp einem Jahr wöchentlichem, mehrstündigen Kurs «Töpfern an der Drehscheibe» und meinem mässigen Talent traue ich es mir zu. Ich schmeisse die Kugel kühlen Tons beherzt auf die Töpferscheibe, der Vorgang des Zentrierens steht an. Der richtige Griff, die Scheibe dreht – jetzt bin ich ganz da.

Keramik-Boom findet Einzug in die Filmwelt

Der weltweite Keramik-Boom hält gerade Einzug in die Filmwelt. Auf Sky läuft mit «Room of Colour» die Geschichte der englischen Art-déco-Keramikkünstlerin Claire Cliff. Sie hat die Keramikwelt spätestens ab den 1930er mit ihren neuen Mustern und Formen revolutioniert. Schon die Besetzung mit Phoebe Dynevor («Bridgerton») dürfte gute Einschaltquoten garantieren.

Der Kurs dauert drei Stunden, ich bin in meine Arbeit vertieft, fühle mich geerdet beim Betätigen eines Handwerks, das seit Jahrtausenden besteht und eine ebenso lange Geschichte hat. Nach einem gedrehten Krug, mehreren gedrehten und abgedrehten Töpfen, verlasse ich das Atelier um 21 Uhr. Ich bin die Ruhe selbst.

veröffentlicht: 21. Mai 2022 12:28
aktualisiert: 27. Mai 2022 11:16
Quelle: FM1Today

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